Europäische Institut für Menschenrechte - Prof. Dr. Dr. Ümit Yazıcıoğlu -
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Die Frage des Rechtsstaatsprinzips in Deutschland: Eine kritische Betrachtung

Die Frage des Rechtsstaatsprinzips in Deutschland: Eine kritische Betrachtung

 

Prof. Dr. Dr. Ümit Yazıcıoğlu

 

Wenn politische Vertreter Deutschlands den Terminus "freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat" in diversen Zusammenhängen bemühen, erweckt dies den Eindruck einer stolzen Zurschau-stellung des Rechtsstaats-prinzips. Dennoch lässt sich argumentieren, dass das deutsche Territorium his-torisch gesehen nie wirklich von einem Rechtsstaat im eigentlichen Sinne geprägt wurde. Historische Phasen weisen darauf hin: Während der Kaiserzeit dominierte eine klar klassenbasierte Justiz. Die Weimarer Republik war geprägt von einer Justiz, die die Republik selbst missbilligte. Unter dem Dritten Reich verlagerte sich die Justiz in die Richtung krimineller Absichten. Die Nachkriegszeit war gezeichnet von Opportunismus, und gegenwärtig erleben wir eine Justiz, die stark durch die Politik beeinflusst erscheint.

 

Betrachtet man beispielsweise das Amt des Generalbundesanwalts und der ihm unterstellten Bundesanwälte, so sind diese in ihrer Funktion von Weisungen abhängig. Sie werden vom Bundesjustizministerium vorgeschlagen und schließlich vom Bundespräsidenten ernannt. Ihre Abberufung oder Versetzung in den vorläufigen Ruhestand kann jederzeit erfolgen, sollten sie nicht im Sinne der regierenden politischen Kräfte agieren. Eine ähnliche Situation liegt bei den Generalstaatsanwälten der Bundesländer vor, die ebenfalls weisungsgebunden und abhängig von den Anordnungen ihres Dienstvorgesetzten, in der Regel dem Justizminister, sind.

 

Obwohl das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich die Trennung der Exekutive von der Judikative vorschreibt, scheint die Realität von dieser Norm abzuweichen. In der Tat legen Beobachtungen nahe, dass die gesetzlich festgeschriebene Gewaltenteilung in der praktischen Umsetzung nur unzureichend verwirklicht wird.

 

Ein renommierter Strafrechtsprofessor und Kriminologe, Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, hat sich eingehend mit diesem Thema auseinandergesetzt und stellt die Frage, warum dieses Problem im gesamten Justizsystem besteht. Er betont die Notwendigkeit von Autonomie, insbesondere im Justizsektor. Verlautbarungen von Richterverbänden unterstreichen diese Notwendigkeit eindrucksvoll. Im Kern argumentiert er für eine Verlagerung der Personalhoheit von den Landesjustizministern (Exekutive) zu unabhängigen Justizverwaltungsräten und Richterwahlgremien (Judikative). In 24 EU-Ländern existieren demokratisch legitimierte Richterwahlen. Lediglich in Deutschland, Österreich und Tschechien werden diejenigen, die für die Kontrolle der Exekutive zuständig sind, noch von dieser Exekutive selbst bestimmt.

 

Unabhängigkeit und Autonomie im Justizsystem: Eine Analyse und Kritik der aktuellen Zustände

 

Die Fundamente eines funktionierenden Rechtsstaates basieren auf dem Grundsatz der Unabhängigkeit seiner Judikative. In jüngerer Zeit haben Forderungen nach tiefgreifenden Reformen im Justizsystem an Relevanz gewonnen, insbesondere von Richterverbänden. Der Schlüssel zu echter Autonomie und Unabhängigkeit liegt in transparenten Auswahlverfahren und Ernennungen, die auf klar definierten und nachvollziehbaren Kriterien basieren. Das aktuelle System der Beförderungen sollte durch temporäre Funktionszuweisungen ersetzt werden, um die Bedenken bezüglich der potenziellen Beeinflussung durch Vorgesetzte zu adressieren.

 

Es ist von Bedeutung, die Dritte Gewalt von Karriereabhängigkeiten zu befreien. Dies würde nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine psychologische Unabhängigkeit für die Akteure – die Richter und Staatsanwälte – fördern, die in ihrer Rolle unabdingbar ist. Realisierte Unabhängigkeit manifestiert sich in der Furchtlosigkeit vor externen Einflüssen, insbesondere von politischen Machthabern.

 

Trotz seiner herausragenden Bedeutung gewährt das Grundgesetz nur den Richtern formale Unabhängigkeit. Die jüngste Finanzkrise unterstreicht die Dringlichkeit dieser Frage eindringlich. Es wurde beobachtet, dass die Spekulationsaktivitäten privater Akteure durch politische Entscheidungsträger gefördert wurden, was zu erheblichen systemischen Schäden im Banken- und Finanzsektor führte.

 

Ein transparentes und unabhängiges Justizsystem sollte in der Lage sein, gegen jegliche Verfehlungen, auch gegen die von Politikern, rigoros vorzugehen. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn hinreichende Indizien für einen Verstoß, wie den der Untreue, vorliegen. Es entsteht die Frage, warum solche Untersuchungen nicht stattfinden.

 

Viele hohe politische Funktionsträger üben die Aufsicht über Finanzspekulationen in Landesbanken aus und haben somit die Macht, jene zu beauftragen und zu lenken, die potenzielle Verfehlungen dieser Aufsichtsräte prüfen sollten. In einem solchen Kontext ist es unrealistisch zu erwarten, dass ein Staatsanwalt unabhängig gegen seinen Vorgesetzten ermitteln kann.

 

Die zentralen Funktionen im Justizsystem, die des Staatsanwalts und des Richters, müssen beide unabhängig sein, jedoch nicht notwendigerweise identisch in ihrer Struktur und Organisation. Die Entlassung von Staatsanwälten und Richtern aus der Kontrolle der Exekutive würde ihnen mehr Verantwortung und Macht verleihen. Es ist entscheidend, ihre Machtgrenzen zu definieren und Mechanismen zu implementieren, wie beispielsweise eine stärkere Richterdienstgerichtsbarkeit. Ebenso wichtig ist es, Bürgern während des Ermittlungsverfahrens ausreichenden Rechtsschutz zu gewähren.

 

In aktuellen wie auch in vergangenen Zeiten gibt es Herausforderungen, die noch nicht gemeistert wurden.

 

Die Notwendigkeit einer gerechteren Sozialordnung, welche die Anwendung einer von politischer Zweckmäßigkeit unabhängigen Justiz legitimiert, stellt eine essentielle Anforderung dar. Anderen obliegt es jedoch, diese Anforderung umzusetzen. Das Fortbestehen einer sozial gerechten Gesellschaft hängt primär von der erfolgreichen Bewältigung dieser demokratischen Mammutaufgabe ab.

 

Ein beispielhafter Fall politischer Brisanz: Die französische Kriminalpolizei, gemeinsam mit der heutigen Europaabgeordneten und damaligen Untersuchungsrichterin am Pariser Justizpalast, Frau Eva Joly, sowie dem Genfer Generalstaatsanwalt, leitete umfassende Untersuchungen im Zusammenhang mit ELF-AQUITAINE ein. Diese Untersuchungen mündeten in Anklagen gegen hochrangige Politiker, Industrielle und Geheimdienstmitarbeiter sowohl aus Deutschland als auch aus Frankreich.

 

Das Resultat in Frankreich war, dass Politiker, Industrielle und Mitglieder des französischen Geheimdienstes angeklagt und zu Haftstrafen verurteilt wurden. Und in Deutschland?

 

Die umfangreichen Untersuchungsunterlagen wurden vom Genfer Generalstaatsanwalt an die deutsche Bundesanwaltschaft zur weiteren Prüfung und potentiellen Anklage übergeben. Nach einer ersten Durchsicht wurden die Akten versiegelt und im Archiv der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe archiviert.

 

Trotz umfassender Ermittlungen gab es in manchen Fällen keine Anklagen, keine Verurteilungen und wenig Medienberichterstattung.

 

Es ist bekannt, dass die Politik bisweilen Einfluss auf die Justiz nehmen kann. Es gibt viele ehemalige Richter und Staatsanwälte, die über ihre Erfahrungen sprechen könnten. Es gibt Berichte darüber, wie Justizminister gelegentlich Anweisungen an ihre Staatsanwälte geben, wie bestimmte Verfahren zu behandeln sind.

 

Es gibt Fälle, in denen Staatsanwälten genaue Vorgaben gemacht wurden, welche Strafen sie beantragen sollten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Justizminister sich die Akten von Strafverfahren ansehen. Doch der Verbleib dieser Akten bleibt oft unklar.

 

Es gibt auch Fälle, in denen Staatsanwälte, die nicht im Sinne ihres Justizministers handeln, berufliche Nachteile erfahren. Einige berichten von Schwierigkeiten, Beförderungen zu erhalten oder gar aus ihrem Amt entfernt zu werden.

 

In der deutschen Geschichte gibt es wenig Präzedenzfälle für eine Gerichtsbarkeit, die sich speziell mit Vergehen von Justizmitarbeitern befasst. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass nach dem Ende des Dritten Reiches nur wenige Richter oder Staatsanwälte für ihre Rolle während der NS-Zeit zur Rechenschaft gezogen wurden. Einige wurden sogar in ihren vorherigen Ämtern wiedereingesetzt.

 

Es gab auch Fälle, in denen Richter, die während des Dritten Reiches gegen Juden entschieden hatten, später über deren Entschädigung entschieden.

 

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zeigte großen Mut in seiner Verfolgung der NS-Verbrechen. Jedoch fühlte er sich oft isoliert in seinen Bemühungen und musste mitunter besondere Maßnahmen ergreifen, um seine Ermittlungen voranzutreiben.

 

Es gibt Länder, wie Frankreich, die spezielle Gerichtshöfe für politische Verbrechen haben. Deutschland hat jedoch keinen solchen Gerichtshof.

 

 

 

16 Eylül 2019

 

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