Europäische Institut für Menschenrechte - Prof. Dr. Dr. Ümit Yazıcıoğlu -
      Europäische Institut für Menschenrechte - Prof. Dr. Dr. Ümit Yazıcıoğlu -

Kurdistan

   

Die Kurden als ein Volk ohne souveränen Staat.
Ümit Yazıcıoğlu
 
     Prolog
 
     Es stellt sich die Frage, wo liegt Kurdistan? Dies wird in der ersten kurdischen Chronik von 1596, dem „Sheref-Nameh“ wie folgt beantwortet: „Du Kurde, weißt Du, wo Deine Stämme leben? Hör zu, ich beschreibe Dir die Heimat Deines Volkes. Vom Taurus bis Iskenderun, vom Westen bis zum Schwarzen Meer verläuft die Grenze Deiner Heimat, vom Schwarzen Meer durch Ardahan den Fluß Aras entlang, merke das, führt die nördliche Grenze Deiner Heimat, vom Alwand-Gebirge durch den Urmiyeh-See bis zur Quelle des Flusses Aras verläuft die östliche Grenze Deiner Heimat, von Ahwaz und dem Hamrain-Gebirge bis Sandjar und Nassibain führt die südliche Grenze Deiner Heimat“.
     
Die Kurden als ein Volk ohne souveränen Staat.
     
Auf den meisten Landkarten handelt es sich bei der geographischen Bezeichnung von Kurdistan um die Bergregion, die das Gebiet vom Südosten der Türkei über den äußersten Norden des Irak bis in den westlichen Iran umfaßt. Demgegenüber bezeichnen vor allem kurdische Quellen das ethnographisch geschlossene Siedlungsgebiet der heute etwa 40 Millionen lebenden Kurden als Kurdistan, mehr als ein doppelt so großes Territorium. Dies erstreckt sich von den Taurus – Ausläufern in der Zentraltürkei im Westen bis zur iranischen Hochebene im Osten. Im Norden geht das Gebiet vom Berg Ararat bis zu den Ebenen Mesopotamiens im Süden. Dieses Gebiet, in dem das kurdische Volk seit Jahrhunderten lebt und seine politische Selbstbestimmung erlangen will, umfaßt ca. 550 000 qkm und ist so groß wie Frankreich.
     
Türkisch-Kurdistan ist ein Teil der türkischen Republik und die Heimat des Teiles des kurdischen Volkes, der innerhalb der Grenzen dieses Staates lebt. Bezogen auf das Staatsgebiet der Türkei umfaßt nach kurdischen Vorstellungen Türkisch-Kurdistan mit 230 000 qkm rund ein Drittel des gesamten türkischen Territoriums. Es handelt sich vor allem um Ost-, Süd- und Südost-Anatolien. „Nach einer jüngsten Berechnung des Nationalen Sicherheitsrates in Ankara wird es in 30 Jahren mehr Kurden als Türken in der Türkei geben“. Die Kurden stellen die Mehrheit der Bevölkerung in den südöstlichen Provinzen der Türkei, so in Ağrı, Binğöl, Bitlis, Erzurum, Diyarbakir, Hakkari, Mardin, Siirt, Şirnak, Adıyaman, Mus, Urfa, Van u.a. Verwaltungsmäßig machen sie etwa 30 von 81 Provinzen des Staates aus. Das Volk der Kurden ist in der Türkei seiner Identität und seines Rechts auf Selbstbestimmung beraubt worden. „Jeder, der einen legitimen Anspruch darauf hat, Kurde zu sein, das heißt, jedes Kind, das von kurdischen Eltern geboren worden ist, bekommt automatisch eine türkische Identität. Ihm wird das fundamentale Recht, Kurde zu sein, verweigert“. Trotzdem besitzt das kurdische Volk alle Merkmale einer Nation, die die modernste Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung der Völker in unserer Epoche ist. Denn es hat eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Geschichte, welche durch territoriale Einheit und geistige Zusammengehörigkeit gekennzeichnet ist.
 
Ihrer Abstammung nach sind die Kurden nach Ansicht der Ethnologen Nachfahren von indoeuropäischen Stämmen583, die sich in dieser Gegend vor etwa 4000 Jahren angesiedelt hatten584. Ihrem eigenen Selbstverständnis nach fühlen sich die Kurden als die direkten Nachfahren der Meder. Diese eroberten 612 v. Chr. Ninova und wurden ihrerseits 550 v. Chr. von den Persern erobert.
 
In seiner ganzen Geschichte hat das kurdische Volk, abgesehen von kurzlebigen Stammesdynastien und der vom 22. Januar 1946 bis zum Frühjahr 1947 bestehenden „Republik Mahabad“, keine politische Unabhängigkeit gekannt. Hingegen dienten die kurdischen Fürstentümer vom Untergang des Mederreichs bis zum ersten Weltkrieg immer wieder den Interessen fremder Mächte als Pufferzone. Im Mittelalter war das Kurdengebiet ein Puffer zwischen Türken und Persern .
 
Die Geheimverträge der Alliierten über die Aufteilung der Türkei und Kurdistan führten 1916 zu der Deportation von 700 000 Kurden nach Westanatolien. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1918 schien es, daß die nationale Frage der Kurden, die seit Jahrhunderten Thema kurdischer Politik und Literatur war, einer Lösung nahegebracht werden könnte. Im August 1920 wurde der Vertrag von Sevres unterzeichnet .
 
Der Vertrag von Sevres sah neben drei arabischen Staaten auch Kurdistan und Armenien als unabhängige Staaten vor. Dieser Vertrag wurde jedoch nie von der türkischen Nationalversammlung ratifiziert. Drei Jahre später wurde der Vertrag von Lausanne abgeschlossen.
 
In ihm fanden jedoch nur noch die arabischen Staaten Hejaz, Syrien und Irak Erwähnung, von Kurdistan und Armenien hingegen war keine Rede mehr. Die Hoffnungen der Kurden auf einen Nationalstaat wurden nicht erfüllt. Diesen Vertrag hat die Türkei ratifiziert, weil die anatolischen Teile Kurdistans bei der Türkei blieben. So verlaufen bis zum heutigen Tag durch das Siedlungsgebiet des kurdischen Volkes Grenzen von vier Staaten.
 
Seitdem die Araber das Siedlungsgebiet der Kurden im 7. Jahrhundert n. Chr. erobert haben, sind die Kurden fast ausschließlich Moslems. Zunächst hatten sie sich gegen die Übernahme des moslemischen Glaubens gewehrt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine Art „Volks-Islam“, bei dem die Kurden ihre eigene Kultur in den Islam einbrachten. Heute ist die große Mehrzahl der Kurden der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams zuzuordnen. Sie leben nach der schafiitischen Lehre. Daneben gibt es mehrere Hunderttausende Schiiten, welche sich als Qizilbas bzw. Alewiten darstellen.
 
Als Alewi bezeichnen sich die Mitglieder der Sekte der Nusairier. Diese haben vor allem in Syrien führende Positionen inne. In Iranisch- und Irakisch-Kurdistan gibt es daneben noch einen kleinen Prozentsatz Christen unter der dortigen Bevölkerung. Es handelt sich um Nestorianer und Assyrer. Dies sind jedoch nicht Kurden, sondern Angehörige der assyrisch-aramäischen Volksgruppe. Schließlich leben im türkischen Teil Kurdistans noch zwischen 30 000 und 50 000 Kurden als Yezidi. Die verschiedenen Dialektgruppen der kurdischen Sprache gehören mit dem Kurmandschi , Zazaki602, Sorani, Lori und Gorani der indo-europäischen Sprachfamilie an.
 
Jedoch weist das Kurdische als Schriftsprache keine Tradition auf. Zu seiner Wiedergabe werden vielmehr arabische, lateinische und – von den verstreut in Armenien lebenden kurdischen Splittergruppen – kyrillische Schriftzeichen verwendet. Hinge gen verfügen die Kurden über ein reiches Potential an Märchen, Mythen und Legenden und auch über eine eigene musikalische Kultur, denn sie gelten als eines der ältesten Kulturvölker der Erde. Doch dieses literarische Erbe bleibt wegen des immer noch weit verbreiteten Analphabetismus einem Großteil des Volkes verschlossen. Insgesamt sind 70% der Kurden Analphabeten, in der Türkei liegt der Anteil der Analphabeten bei der kurdischen Bevölkerung sogar bei 72 % .
 
Die natürlichen Grundlagen in Kurdistan zeichnen sich durch ein reichhaltiges Vorkommen an Bodenschätzen aus. Diese sind jedoch größtenteils noch nicht erschlossen. Die 1927 entdeckten Erdölvorkommen in der Gegend von Kerkük sind unermeßlich groß und führten seitens der irakischen Behörden zu der Behauptung, daß sie nicht als ein Teil Kurdistans anzusehen seien. Neben den heftig umstrittenen Erdölvorkommen in Irakisch-Kurdistan konnten auch in kurdischen Gebieten der Türkei, des Irans und Syriens Ölvorkommen festgestellt werden.
 
Gefördert werden in einigen Regionen Eisenerz, Kupfer, Erdgas und Chrom, während die Ausbeutung der Gold- und Silbervorkommen sowie die dort vermuteten Uran-Lagerstätten bisher noch nicht bekannt geworden sind610. Eine unterentwickelte Infrastruktur und die verkehrstechnischen Schwierigkeiten in den gebirgigen Landschaften ließen Kurdistan auf einem wirtschaftlich unterentwickelten Niveau stehen bleiben. Trotz des natürlichen Reichtums gibt es kaum Arbeitsplätze in der Industrie Kurdistans; lediglich stellt die Mineralölbranche eine Ausnahme dar.
 
Hingegen ist die Landwirtschaft trotz traditioneller Methoden und archaischer Eigentumsverhältnisse sehr produktiv und kann als offen für eine Integration in andere Märkte bezeichnet werden. Auch arbeiten drei Viertel der Bevölkerung im Agrarsektor6. Es ist eine abwechslungsreiche Fruchtfolge mit Weizen, Gerste, Reis und Tabak vorzufinden. Des weiteren werden zahlreiche Obstsorten angebaut. Das Vieh und hier insbesondere die Schafe liefern Fleisch, Milchprodukte und Wolle. Durch die Forstwirtschaft werden Bau- und Brennholz der Nutzung zugeführt. Jedoch ist der Lebensstandard in Kurdistan im allgemeinen bis heute sehr niedrig geblieben613. Nur durch Ausbau der Infrastruktur sowie durch erhebliche Investitionen in den Abbau und die industrielle Weiterverarbeitung der vorhandenen Bodenschätze ließe sich eine effektive Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erzielen

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