Europäische Institut für Menschenrechte - Prof. Dr. Dr. Ümit Yazıcıoğlu -
      Europäische Institut für Menschenrechte - Prof. Dr. Dr. Ümit Yazıcıoğlu -

Europäische Integration durch Solidarität beim Flüchtlingsschutz

Europäische Integration durch Solidarität beim Flüchtlingsschutz

 

A.        Krise des europäischen Flüchtlingsschutzsystems

I.         Entwicklung des europäischen Asylsystems

Die Europäische Union hatte zu Beginn und auch anschließend weiterhin über Jahrzehnte kein Mandat weder im Flüchtlingsrecht noch beim Schutz der Menschenrechte. Während die Entwicklung menschen- und grundrechtlicher Positionen durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eingeleitet und fortentwickelt wurde und schließlich durch den Lissaboner Vertrag 2009 menschenrechtliche Standards durch Integration der Europäischen Grundrechtecharta in das Primärrecht Bestandteil der Verfassung  wurde, wurde das Flüchtlingsrecht erst sehr spät harmonisiert. Am Beginn der europäischen Harmonisierung des Asylrechts stand nicht das Unionsrecht, sondern das Recht der fünf urprünglichen Schengen-Staaten. Historischen Anlass für diese zunächst eher zögerliche Entwicklung gab die Einheitliche Europäische Akte von 1986, die 1987 in Kraft trat. Bis dahin agierte jeder Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht bei der Behandlung von Flüchtlingen. Die Folge war ein allgemein verbreitetes Phänomen der siebziger und achtziger Jahre, der „refugee in orbit“ (Flüchtling in der Umlaufbahn). Hiermit wurde die Praxis bezeichnet, dass jeder europäische Staat versuchte, auf Kosten des Nachbarstaates die Flüchtlinge wieder loszuwerden

 

Das Völkerrecht beruht auf der einzelstaatlichen Verantwortlichkeit und kennt kein Asylrecht. Flüchtlinge dürfen nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, wohl aber in dritte Staaten. Das Bundesverfassungsgericht entwickelte 1996 sogar den Begriff des „Viertstaates.“[1] Dieser ist aber nur ein Glied in einer „endlosen Kette von Drittstaaten“, die schließlich im Herkunftsland endet, ohne dass irgendeiner der um Schutzgewährung gebetenen Staaten die Fluchtgründe geprüft hätte. Dieses System wurde 1951 in Europa mit der Genfer Flüchtlingskonvention ins Werk gesetzt und prägte die europäische Praxis bis Mitte der 1980er Jahre, bis zum Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte. Es liegt auf der Hand, dass einem gemeinsamen Binnenmarkt, der damit in Gang gebracht werden sollte, diese von nationalen Interessen und Egoismen geprägte Flüchtlingspraxis der Mitgliedstaaten zuwiderlief. Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes heißt Abschaffung der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten, aber auch wirksame Sicherung der Außengrenzen. Sind die Asylsuchenden und Flüchtlinge erst einmal im Binnenmarkt, können sie ungehindert durch Grenzkontrollen in diesem umherwandern, wenn es keine gemeinsame, für alle Mitgliedstaaten verbindliche Regeln zur Kontrolle der Binnenwanderung gibt.

 

Folglich waren und sind es zwei große Ziele, welche die gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der Mitgliedstaaten von Anfang an geleitet haben und auch weiterhin leiten: Erstens, zielen die Maßnahmen der Union dahin, zu verhindern, dass Asylsuchende und Flüchtlinge ohne Kontrolle in den Binnenmarkt einreisen können. Kontrolle der Außengrenzen zwecks Eindämmung des Zugangs von Drittstaatsangehörigen als vertraglich festgelegte Verpflichtung der Mitgliedstaaten, finanziell und institutionell seit 2004 durch Aufbau der Grenzschutzagentur Frontex unterstützt durch die Union, ist deshalb eines der politischen Ziele der Europäischen Union. Zweitens setzt das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes eine Regulierung der Binnenwanderung von Asylsuchenden und Flüchtlingen voraus. Zu diesem Zweck wurde das Dubliner System geschaffen. Dieses System kann aber auch als Alternative zum Prinzip der einzelstaatlichen Verantwortung des völkerrechtlichen Flüchtlingsrechts verstanden werden. Denn es eröffnete erstmals in der Geschichte des Flüchtlingsrechts die Einführung eines kooperativen Systems des Flüchtlingsschutzes. Wirksam funktionieren kann es aber nur, wenn die Kooperation der beteiligten Staaten  vom Geist der Solidarität miteinander getragen ist, ein politisches Ziel, das heute jedenfalls normativ nach Art. 80 AEUV das europäische Asylsystem leiten soll.

 

Kooperation setzt vom Willen aller beteiligter Staaten getragene verbindliche Regeln voraus, die bestimmen, wie bei der Aufnahme von Flüchtlingen kooperiert werden soll. Am Ausgangspunkt war das geschaffene Regelwerk bescheiden. Es setzte abstrakte Regeln fest, die bestimmten, welcher Staat für die Aufnahme zuständig ist. Weitere Absprachen gab es nicht. Dabei war von Anfang an das Prinzip maßgebend, dass der Einreisestaat zuständiger Aufnahmestaat sein sollte. Dieses System wurde aber nicht im Rahmen der damaligen Europäischen Gemeinschaften, sondern zunächst im kleinen Zirkel der ursprünglichen fünf Schengenstaaten, den Benelux-Staaten, Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, geschaffen. In diesem durch gemeinsame Traditionen  und enge Verflechtungen geprägten Bündnis von Staaten verursachte die bloße Beschränkung auf die Frage der  Zuständigkeit keine ernsthaften Störungen, weil aufgrund dieser Bedingungen gemeinsame Regeln für die Behandlung der Flüchtlinge und die Statusgewährung nicht zwingend erforderlich waren.

 

Das Schengener Systerm wurde anschließend auf der Grundlage eines multilateralen Vertrages, dem Dubliner Übereinkommen von 1990 (Dublin I), fortgeführt und umfasste alle damaligen zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. 2003 ging dieses System schließlich in das Gemeinschaftsrecht auf (Dublin II-VO). Mit der Übernahme des den zwischenstaatlichen Vertragswerken zugrundeliegenden Modells in das Gemeinschaftsrecht stellte sich aber die Aufgabe, das gemeinsame Asylrecht nicht lediglich als Zuständigkeitsproblem zu behandeln, sondern auch einheitliche Standards für die Behandlung der Flüchtlinge zu schaffen. Insoweit bezeichnet der Übergang von Dublin I zu Dublin II eine historische Zäsur in der europäischen Flüchtliungspolitik. Denn Dublin II beruhte auf dem Amsterdamer Vertrag von 1997, der die Verpflichtung enthält, nicht nur die Zuständigkeitsfrage, sondern auch Rechtsakte zu schaffen, welche die Aufnahme von Asylsuchenden, die verfahrensrechtliche Behandlung der Asylanträge wie auch die Statusgewährung einheitlichen Regeln unterwerfen, zunächst in Form von Mindeststandards und seit dem Lissaboner Vertrag von 2009 durch gemeinsame Regeln. Während aber das als reine abstrakte Zuständigkeitsmaschine konzipierte Dubliner Regelwerk in Form einer Verordnung mit der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften unmittelbar in Kraft trat, ließ die Harmonisierung der anderen Aufgabenbereiche auf sich warten und ist bis heute nicht abgeschlossen. Die Aufteilung der Asylsuchenden innerhalb der Gemeinschaft und später der Union wurde aufgrund dessen in einem Rahmen vollzogen, der hinsichtlich der Behandlung von Flüchtlingen von sehr heterogenen nationalen Systemen geprägt ist. Es lag und liegt in der Logik dieses Defizits, dass es dem politischen Ziel der Verhinderung sekundärer irregulärer Binnenwanderung entgegenwirkt, weil die Asylsuchenden nicht dort bleiben wollen, wo ihnen nicht der gebotene Schutz zuteil wird.    

 

II.       Beginn  der Krise des europäischen Asylsystems

Die ursprüngliche Philosophie der Beschränkung trug, solange der Kreis der Staaten klein war, zunächst die fünf ursprünglichen Schengen-Staaten, anschließend die damals zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft. Das bezeichnete Defizit des europäischen Asylsystems verursachte bis 2004 keine größeren Probleme, weil alle Mitgliedstaaten mehr oder weniger einheitliche Regeln für die Behandlung von Flüchtlingen in ihrem Recht entwickelt hatten und die meisten auch eine Tradition als Einwanderungsstaaten aufwiesen. Doch mit der Aufnahme weiterer Staaten seit 2004  begann eine Entwicklung, die derzeit voll zum Ausbruch gelangt, weil nicht Solidarität, sondern nationale Abkappselung das Bild beherrschen. Wer angesichts dessen den Zeigefinger auf die Neuen richtet, blendet die historschen Ursachen dieser Fehlentwicklung aus. Der Fehler liegt bereits im Prozess des Beitritts der Neuen, denen die Platzhirsche ihre Regeln diktierten. Noch zwei Tage vor dem Beitritt zehn neuer Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 wurden asylrechtliche Rechtsakte verabschiedet und im Amtsblatt veröffentlicht. Die Neuen mussten alles übernehmen, hatten aber bis dahin überhaupt keine Tradition im Flüchtlingsschutz. Alle Staaten des „Ostblocks“ waren keine Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention und wegen der jahrzehntelangen realsozialistischen Selbstisolation auch keine konkreten Erfahrungen im Umgang mit Migranten sammeln können.[2] Doch ungeachtet dessen wurde von ihnen dieselbe Leistung erwartet, die die traditionellen Einwanderungsstaaten des Westens erbrachten. Griechenland und Italien waren traditionell Transitstaaten. Italien hatte noch bis Anfang der 1990er Jahre den Europavorbehalt der Konvention geltend gemacht, wonach der Schutz auf Flüchtlinge auf Europa beschränkt war. Auch diese Staaten hatten deshalb von Anfang an Probleme, die vereinbarten Standards einzuhalten.

 

Die Union ist kein Staat, der kraft souveräner Anordnung den Untergliederungen die Regeln diktiert, an die sie sich zu halten haben. In mühsamen, zähen und langwierigen Verhandlungen werden Kompromisse geschlossen, die anschließend in rechtsverbindliche Formen gegossen werden. Doch bei diesen Verhandlungen gibt es unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen politischen Gewichten und Aktionsradius. Im Asylrecht können wir beobachten, dass sich nach der Auflösung der politischen Bipolarität die Landschaft veränderte, starke ehemalige Grenzstaaten wie Deutschland in die Mitte rückten und die neuen an den Rand, im wahrsten Sinne des Wortes. Nach der Konzeption von Dublin sind es aber diese politisch und wirtschaftlich schwachen Grenzstaaten ohne Erfahrung im Flüchtlingsschutz, welche die Hauptlast für die einreisenden Asylsuchenden in der Union tragen sollen. Was im elitären Schengenzirkel funktionierte, nämlich, dass der Einreisestaat die Verantwortung für die einreisenden Flüchtlinge übernimmt, musste im großen Rahmen scheitern. Würde das jetzige Dubliner System so funktionieren, wie es konzipiert worden ist und nach seinem Text Anwendung finden soll, würden die einreisenden Flüchtlinge sämtlich in Griechenland, Ungarn, Bulgarien und Italien bleiben. Nur die wenigen, die mit dem Flugzeug in den Staaten im Zentrum ankommen oder denen von diesen ein Visum ausgestellt wurde, müssten von diesen übernommen werden. Das Bild ist einprägsam: An den Rändern der Union endeten die Flüchtlingstrecks, im Zentrum bliebe es leer.

 

Aber, so hat es nie funktioniert. Und so kann es auch nicht funktionieren. Das Recht der Union ist im Asyl- und Flüchtlingsrecht eine Fiktion. Die Realität bringt ihre eigenen Regeln hervor. Man wird die Flüchtlinge nicht aufhalten können. Sie lassen sich nicht in entlegenen Randzonen isolieren, abgeschnitten von ihren Verwandten und Communities im Zentrum. Die Einsicht, dass das alte System nicht mehr trägt, hat sich durchgesetzt. Die Union verspricht der Türkei drei Milliarden, damit sie ihr die Flüchtlinge vom Leib hält. In einer Situation, in der Journalisten in der Türkei inhaftiert und verfolgt werden, weil sie über die von ihnen beobachtete Komplizenschaft der türkischen Regierung mit dem Islamischen Staat berichten, in der ein Präsident die ganze Macht will und zu diesem Zweck neu wählen lässt und im Wahlkampf den Krieg gegen die Kurden aufs Neue beginnt, hofiert die Union den neuen Sultan, schweigt zum Missbrauch seiner Macht. Amnesty International rügte deshalb auch die Union und die Bundesregierung, dass sie schwiegen, obwohl die türkische Behörden seit Monaten Flüchtlinge nach Syrien und in den Irak abschiebt und seit August 2015 wochenlange Ausgangssperren über ganze Stadtteile im Südosten der Türkei verhängt, die Sicherheitskräfte rücksichtlos schwere Waffen in Wohngebieten einsetzt und Zivilpersonen willkürlich tötet.[3] Hauptsache, der Sultan hält die Flüchtlinge von der Weiterwanderung ab. Auch dass die Türkei Flüchtlingsschutz – wie früher Italien - nur europäischen Flüchtlingen gewährt, wird übersehen. Es ist der Zweiklang der europäischen Flüchtlingspraxis: Abwehr des Zugangs von Flüchtlingen durch Verschärfung der Grenzkontrollen und Auslagerung der Verantwortung in andere Regionen einerseits und Regulierung der Binnenwanderung durch Abdrücken der Flüchtlinge auf die Grenzstaaten in der Union andererseits.

 

Die simple Logik des Schengener und später des Dubliner Systems besteht in der Verteilung des Asylsuchenden und Flüchtlinge innerhalb des Binnenraums nach Maßgabe der Interessen der Staaten. Irgendwelche grundrechtsrelevante Inhalte hat dieses System nicht. Es ist eine abstrakte Zuständigkeitsmaschine. Die nicht zu übersehenden menschenrechtswidrigen Zustände in Griechenland brachten den Europäischen Gerichtshof im Dezember 2011 dazu, das Dubliner System mit Grundrechten der Verfassung aufzuladen, freilich mit einem äußerst restriktiven Ansatz. Unzulässig ist die Überstellung, wenn „systemische Mängel“ des Asylsystems oder der Aufnahmebedingungen zur unmenschlichen Behandlung der Flüchtlinge führen.[4] Was der Gerichtshof in Dublin II hinein gelesen hatte, ist nun normativer Inhalt von Dublin III. Elf Monate zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Abschiebung eines Flüchtlings von Belgien nach Griechenland untersagt, weil er die dortigen Defizite im Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen für Asylsuchende als unmenschliche Behandlung wertete und damit die Überstellung an Griechenland als Verletzung von Art. 3 EMRK bezeichnete.[5] Während jedoch der Straßburger Gerichtshof den Einzelfall im Blick hat, hat der Luxemburger Gerichtshof das Ganze auf seinem Monitor, das Interesse der Mitgliedstaaten. Nur in Ausnahmefällen, wenn es systemisch bedingt zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen aufgrund des nationalen Systems kommt, wird die abstrakte Maschine angehalten. Die deutsche Rechtsprechung unter Führung des Bundesverwaltungsgerichts spitzt diesen Ansatz noch weiter zu, schließt es ausdrücklich aus, wegen einer drohenden unmenschlichen Behandlung im konkreten Einzelfall die Abschiebung zu untersagen.[6] Die ohnehin schwache Schutzwirkung des Begriffs der systemischen Mängel wird dadurch noch weiter geschwächt. Da Art. 3 EMRK nicht unter einem Vorbehalt systemischer Verletzung steht, sondern absolute Schutzwirkung entfaltet, herrscht aber keine Gefolgschaft in den unteren Instanzen, wie jetzt am Beispiel der Länder Ungarn, Bulgarien sowie Italien beobachtet werden kann. Die überwiegende Mehrzahl der Verwaltungsgerichte stoppt die Abschiebung nach Ungarn, Bulgarien und viele Gerichte auch die nach Italien. Zu offensichtlich ist die Schutzlosigkeit der Flüchtlinge in diesen Ländern als dass man die abstrakte Zuständigkeitsmaschine weiter laufen lassen könnte

 

Wir beobachten derzeit eine gegenläufige Entwicklung: Kein ernst zu nehmender Politiker verteidigt noch das derzeitige Dubliner System. Wie eingangs erwähnt, baut das europäische Asylsystem auf Dublin auf, doch das jetzige Dubliner System ist gescheitert. Kann es gerettet werden? Wir erleben derzeit eine Inflation nationalstaatlicher Abwehrstrategien. Mitgliedstaaten im Südosten errichten Stacheldrahtzäune um ihr Staatsgebiet, um die Flüchtlinge abzuwehren. Der Eiserne Vorhang, den man vor einem Vierteljahrhundert losgeworden war und der die Bevölkerung im Gebiet des Warschauer Paktes einschloss, kehrt zurück. Als Eiserner Vorhang light soll er die Flüchtlinge davon abhalten, das Staatsgebiet zu betreten. Das grundlegende Prinzip der Freizügigkeit, wie es mit dem Binnenmarkt verfolgt wird, wird aufgegeben. Schweden führt Grenzkontrollen gegen die Weiterwanderung der Flüchtlinge aus Dänemark ein. Im Gegenzug führt Dänemark ebenfalls, wenn auch nur stichprobenartig, Grenzkontrollen gegenüber Deutschland ein. Im Entwurf des ersten Asylpakets des Bundesinnenministeriums wurden Transitzonen vorgeschlagen, folglich Kontrollen an den Außengrenzen insbesondere gegen Österreich. Der in der Türkei beginnende Flüchtlingstreck wird aus dem Zentrum heraus umgedreht, durch nationale Abwehrstrategien. Wir erleben derzeit einen Rückfall in die 1970er und 1980er Jahre, die – wie erwähnt – durch die Abschiebung der Flüchtlinge in die Nachbarstaaten geprägt war. Die europäische Integration, die auf dem Freizügigkeitsprinzip aufbaut, ist schweren Belastungen ausgesetzt. Binnenkontrollen sind nach Art. 23 des Schengener Grenzkodex von 2006 nur für eine vorübergehende Zeit, nämlich für 30 Tage, zulässig. Im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit kann die Frist um jeweils 30 weitere Tage verlängert werden.  Offen bleibt, wie lange die erwähnten südlichen Staaten sowie Schweden und Dänemark Binnenkontrollen praktiziert wollen. Überzeugende Gründe, dass ohne Einführung dieser Kontrollen die öffentliche Sicherheit bedroht wäre, wurden bislang nicht mitgeteilt. Wollen wir aber die Not Schutz suchender Asylsuchender und Flüchtlinge wirklich als Bedrohung unserer Sicherheit ansehen? Wollen wir eine Entwicklung zulassen, dass der „wehrhafte Staat“ den „aufnahmebereiten Staat“ verdrängt?

 

Der Rückgriff auf nationalstaatliche Abwehrstrategien gegen Flüchtlinge ist Ausdruck eines fehlenden politischen Willens für die Kooperation in der Flüchtlingsfrage. Es wird damit aber zugleich auch eine Entwicklung eingeleitet, die letztendlich die europäische Idee gefährden könnte. So gesehen, lenken die Flüchtlinge das öffentliche Bewusstsein auf die der europäischen Integration drohenden Gefahren. Der Auftrieb, den rassistische und europafeindliche Bewegungen insbesondere in den Mitgliedststaaten erhalten, welche nationalstaatliche Abwehrstrategien entwickeln, verdeutlichen diese Gefahr. Es stellen sich daher mehrere Fragen: Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Was haben wir in den letzten dreißig Jahren politisch falsch gemacht? Welche Strategien und politischen Instrumente stehen zur Verfügung, um in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten den europäischen Gemeinsinn zu stärken und zum Motor der europäischen Flüchtlingspolitik zumachen?

 

B.        Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit

I.         Zielvorgaben eines Kooperationsmodells

Jedes für einen kooperativen Zusammenschluss mehrerer Staaten geltende Aufnahmekonzept für Flüchtlinge muss zwei Forderungen erfüllen: Es muss einerseits eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeit für die Aufnahme von Flüchtlingen unter den beteiligten Staaten sicherstellen und andererseits Regeln vorsehen, die sicherstellen, dass Rücksicht auf die Staaten genommen wird, die überfordert sind, das heißt, es muss solidarisch gehandhabt werden. Beide Ziele, gerechte Aufgabenaufteilung und solidarisches Handeln, geraten häufig miteinander in Konflikt und können auch nicht stets zu einem harmonischen Ausgleich gebracht werden. Zu den vereinbarten Regeln gehört insbesondere, dass in der Union grundsätzlich nur in einem Mitgliedstaat Schutz beantragt werden kann und dieser für die Union die Verantwortung für den Flüchtling übernimmt. Verändert werden müssen jedoch die Kriterien, nach Maßgabe deren der zuständige Mitgliedstaat bestimmt wird. Das gegenwärtige Dubliner System, das tragend auf dem Prinzip beruht, dass der Einreisestaat zuständiger Mitgliedstaat ist, negiert die Ziele der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeit und der Solidarität innerhalb der Mitgliedstaaten und kann deshalb aus seiner immanenten Logik heraus den aufgrund dieser Ziele bestehenden Anforderungen nicht gerecht werden. Diese strukturellen Mängel haben zum Scheitern dieses Systems und dazu geführt, dass es eigentlich von niemanden mehr befürwortet wird. Die Kommission strengt deshalb eine Überarbeitung des Dubliner Systems an und will in diesem Zusammenhang das Prinzip der Zuständigkeit des Einreisestaates aufgeben.

 

II.       Fortwirkende Geburtsfehler des derzeitigen Dubliner Systems

Ein überarbeitetes System muss sicherstellen, dass Kooperation und Solidarität nicht lediglich Worthülsen bleiben, sondern diese Ziele dieses System tatsächlich in der konkreten Praxis gestalten. Dazu ist es notwendig, die Fehler der Vergangenheit näher zu betrachten, um diese nicht zu wiederholen. Damit rücken zwei zentrale und bis heute fortwirkende Geburtsfehler des Dubliner Systems[7] ins Bewusstsein: Der erste besteht darin, dass das Zuständigkeitskriterium der irregulären Einreise in seiner praktischen Auswirkung die grenznahen Mitgliedstaaten übermäßig in Anspruch nimmt. Das Einreisekriterium läuft also dem Ziel der gerechten Aufteilung der Verantwortung zuwider. Der zweite Geburtsfehler manifestiert sich in dem Defizit, dass es in der Union keine einheitlichen Standards im Verfahren, bei den Aufnahmebedingungen und bei der Statusgewährung gibt. Dies erklärt, dass viele bereits in anderen Mitgliedstaaten anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte irregulär weiterwandern. Einheitliche Standards wurden jedoch in der Vergangenheit ungeachtet schwerwiegender Störungen in vielen nationalen Asylsystemen fiktiv unterstellt und auf der Grundlage dieser rechtlichen Fiktion Flüchtlinge zwangsweise ins Abseits gedrängt und von ihren familiären und ethnisch-kulturellen Bindungen isoliert. Beide Fehler führen zu irregulären Binnenwanderungen nach der Einreise oder der Statusgewährung. Da die Asylsuchenden häufig im Einreisestaat keine akzeptablen Standards vorfinden, suchen sie Mitgliedstaaten mit besseren Standards auf. Zudem schneidet sie der aufgezwungene Aufenthalt im Einreisestaat von ihren familiären, kulturellen und sozialen Bindungen im Mitgliedstaat ihrer Wahl ab. Beide Faktoren zusammen führen dazu, dass die Flüchtlinge irregulär weiterwandern.

 

Der zweite Geburtsfehler besteht darin, dass die maßgeblichen Zuständigkeitskriterien des Dubliner Systems auf dem Verursacherprinzip beruhen.[8] Die Ersetzung des Prinzips der einzelstaatlichen Verantwortlichkeit durch ein kooperatives System der Verantwortlichkeit machte es erforderlich, einen Konsens für die Regeln der Kooperation zu finden. Offensichtlich konnten sich die fünf Schengen-Staaten auf keine andere tragende Begründung für die Aufteilung der Verantwortlichkeit einigen. Derjenige Mitgliedstaat, der einen Aufenthaltstitel erteilt oder seine Grenzen nicht wirksam kontrolliert, wird mit der Verantwortung für die Aufnahme des Flüchtlings belastet. Akzeptabel war dieses Prinzip zu keinem Zeitpunkt, birgt es doch die Gefahr in sich, dass die betroffenen Grenzstaaten Maßnahmen anwenden, die darauf abzielen, den Zugang zu ihrem Territorium oder zum Asylverfahren zu verhindern.[9] Es ist deshalb auch ursächlich für ein Politikmuster, dass auf Defizite bei der Regelung der Einreise der Flüchtlinge in die Union und deren Verteilung innerhalb der Union mit Maßnahmen zur Verschärfung der Grenzkontrolle reagiert wird, ohne wirksam sicherzustellen, dass schutzbedürftige Flüchtlinge identifiziert werden und einreisen dürfen. Gleichzeitig wird der Druck auf die grenznahen Mitgliedstaaten verstärkt, wirksame Grenzkontrollen durchzuführen.[10] Italien hatte im Rahmen bilateraler Abkommen mit Lybien Flüchtlinge auf dem Mittelmeer abgefangen und nach Lybien ausgeschifft, ohne die Schutzbedürftigkeit der Flüchtlinge im Einzelfall konkret zu prüfen. Diese Praxis wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als schwerwiegender Verstoß gegen das Refoulementverbot von Art. 3 EMRK gerügt.[11] Darauf hat die Union reagiert und 2014 durch eine Verordnung geregelt, dass  auf dem Mittelmeer abgefangene Flüchtlinge in dem Land ausgeschifft werden, von dem aus sie ihre Reise über das Mittelmeer begonnen haben.[12]  Gleichzeitig wurden mit nordafrikanischen Staaten Partnerschaften zum Aufbau von Asylsystemen geschlossen und mit der Türkei die Verhandlungen über ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen.

 

III.      Folgen der Geburtsfehler des derzeitigen Dubliner Systems

Politische Folge des Verursacherprinzips ist eine nachhaltige Beschädigung des grundlegenden Prinzips des Refoulementschutzes für Flüchtlinge (Art. 33 Abs. 1 GFK), wonach kein Flüchtling zwangsweise in sein Herkunftsland verbracht werden darf, was einschließt, dass er auch in keinen Transitstaat verbracht werden darf, in dem er rechtlicher Unsicherheit und dadurch der Gefahr der Weiterschiebung in sein Herkunftsland ausgesetzt wird. Für die Berufung auf das „Verursacherprinzip“ bei der Gewährung des Flüchtlingsschutzes kann sich die Union weder auf geltendes Völkerrecht noch auf allgemein anerkannte Grundsätze des Flüchtlingsrechts berufen. Diskutiert wird im Völkerrecht eine Verantwortlichkeit der Herkunftsstaaten für fluchtverursachendes Verhalten.[13] Wenn im Flüchtlingsrecht das Prinzip der Verursachung ins Spiel gebracht wird, geht es also um die Verursachung der Flucht. Das in der Union rechtlich verankerte Verursacherprinzip bezieht sich hingegen auf die Verursachung von Fehlern bei der Durchsetzung schutzverhindernder Maßnahmen, wie die Vorverlegung von Grenzkontrollen und die Abdrängung von Flüchtlingen, und kann bereits deshalb kein anerkanntes Rechtsprinzip des Flüchtlingsschutzes werden. Gleichwohl hat es die Union zum grundlegenden Baustein ihres Asylsystems und ihrer Festung gemacht. Dem Verursacherprinzip liegt der stillschweigende europäische Konsens zugrunde, dass Zurückweisungen ohne Identifizierung der Flüchtlinge legitim sind. Das seit den 1980er Jahren entwickelte System von Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge und der begleitenden stigmatisierenden politischen Kampagnen kumulieren in einem Prinzip des sekundären Unionsrechts, das in Wirklichkeit Ausdruck einer radikalen Negation des Flüchtlingsrechts ist.

 

Das Verursacherprinzip bringt darüber hinaus in den betroffenen Aufnahmegesellschaften eine flüchtlingsfeindliche Einstellung hervor, die das europäische Asylsytem vergiftet. Haben Fehler bei der Immigrationskontrolle die Zuständigkeit für die Aufnahme der Asylsuchenden zur Folge, werden diese von der Gesellschaft als Strafe für nationales Versagen bei der Ausübung der Grenzkontrollen und Visavergabe wahrgenommen und nationalistische, den Menschenrechten, der Demokratie und dem Integrationsprozess zuwiderlaufende Tendenzen hervorgebracht und verfestigt. Bereits deshalb darf der Flüchtlingsschutz nicht nach der Systemlogik der Immigrationskontrolle praktiziert werden. Vielmehr ist er nach Maßgabe der Regeln für völkerrechtlich schutzbedürftige Personen zu verwirklichen. Das Dubliner System hat von Anfang an diese grundlegende aus dem Völkerrecht folgende Verantwortung negiert und ein europäisches Asylsystem hervorgebracht, das in erster Linie den systemlogischen Sachzwängen der Immigrationskontrolle folgte. Rechtlich begründete Verantwortlichkeit und unionsrechtlich geforderte Solidarität lassen sich so nicht hervorbringen.

 

Die derzeitige Handhabung des europäischen Asylsystems verneint die Anerkennung subjektiver Rechte, wie dies insbesondere in der deutschen Rechtsprechung[14] mit der Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union[15] praktiziert wird. Die übermäßige Betonung staatlicher Interessen bedeutet jedoch einen Rückfall in das klassische Völkerrecht des 19. Jahrhunderts, in dem menschenrechtliche Strukturen nicht einmal im Ansatz heraus gebildet worden waren. Sie fördert darüber hinaus die irreguläre Binnenwanderung von Asylsuchenden und Flüchtlingen und läuft damit einem der zentralen politischen Ziele der Union zuwider.

 

C.        Europäische Integration durch Integration der Flüchtlinge

I.         Aktuell diskutierte Lösungskonzepte

Das Asyl- und Flüchtlingsrecht ist integraler Bestandteil der Europäischen Union. Eine Rückkehr zur nationalstaatlichen Flüchtlingspraxis wie sie bis in die 1980er Jahre geübt wurde, schadet den Flüchtlingen und läuft der europäischen Integration zuwider. Die Kritik richtet sich also nicht gegen das europäische Asylsystem als solches, sondern gegen das bislang praktizierte Dubliner System. Die augenblickliche Dynamik der Fluchtbewegungen nach und innerhalb der Union haben zu hektischen und häufig nicht durchdachten Maßnahmen in den Mitgliedstaaten wie auch in der Union geführt. Eine in sich stimmige und systematisch konzipierte Konzeption zur Lösung der Krise des europäischen Asylsystems hat niemand. Andererseits müssen Lösungen gefunden werden, die allgemein Anerkennung finden können. Nicht hilfreich sind aber eindimensionale Wenn-Dann-Schlüsse, wie z.B. wenn nicht der „Sogwirkung in Länder mit großzügigen nationalen Regelungen und ausgeprägten Willkommenskulturen“ entgegengewirkt wird, scheitert die Freizügigkeit.[16] Gegen derartige Beschwörungen ist einzuwenden, dass eine verfehlte Politik nicht nur eine ausschließliche, nämlich das Scheitern des europäischen Projekts zur Folge haben muss. Dieses Projekt ist historisch gewachsen und stark genug, den augenblicklichen Sturm zu überstehen. Auch wenn aktuelle Lösungskonzepte scheitern sollten, wird die Union überleben, weil alle von ihr partizipieren. Vernünftige Lösungen sollten die heterogene Struktur der Union und ihrer Mitgliedstaaten und insbesondere die geschichtliche Entwicklung des europäischen Asylrechts bedenken. Politisches Ziel sollte es daher sein, die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten so zu gestalten, dass deren nationale Besonderheiten insbesondere in der Flüchtlingsfrage bei der Verfolgung des Ziels der europäischen Integration berücksichtigt und diese dadurch letztlich gestärkt wird. Insbesondere muss wieder ein sachlicher Diskussionsstil ohne Untergangsszenarien gefunden werden.

 

Sicherlich haben die Flüchtlingszahlen 2015 die Union vor bis dahin nicht gekannte Herausforderungen gestellt. Der Rückfall in Kleinstaaterei und die hektische sowie auf Abwehr zielende Entwicklung in Europa, vermittelt den Eindruck, ein wirtschaftlich armer Kontinent sei am Ende seiner Kräfte und müsse zu Notstandsmaßnahmen wie dem Einziehen einer Obergrenze in den Flüchtlingszugang greifen, um sich des Ansturms zu erwehren. Bei der Flucht in die Obergrenze wird verkannt, dass die Union nicht eine, sondern 100 Millionen Flüchtlinge hätte aufnehmen müssen, hätte sie so vielen wie Jordanien oder Libanon Schutz bieten wollen, wie der Präsident der Kommission ausführt.[17] Es ist nunmehr an der Zeit, das politische Ziel der Solidarität, wie es für die Flüchtlingsfrage in Art. 80 AEUV verbindlich vorgegeben wird, neu zu gestalten, Zwischenschritte einzuplanen, welche Rücksicht nehmen auf die historischen und nationalen Besonderheiten insbesondere der seit 2004 hinzugekommen Mitgliedstaaten und das Ziel der gemeinsamen Übernahme von Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen in der Union nicht als sofort und zwingend durchzusetzendes, sondern als langfristiges zu verstehen.

 

Derzeit werden eine Reihe von Konzeptionen diskutiert, die insbesondere den Zugang der Flüchtlinge in und ihre Aufteilung innerhalb der Union gestalten sollen. Oberstes Ziel sollte es dabei sein, keine Modelle durchzusetzen, die nicht konsensfähig sind. Nach dem Zusammenbruch des derzeitigen Dubliner Systems sollte ein System gefunden werden, das praktikabel und durchsetzbar erscheint und allgemein anerkannt wird. Die Union hat in ihrer nahezu sechzig Jahre langen Geschichte stets einen Ausweg aus Krisen gefunden, um den hart und kontrovers gerungen und der schließlich mit Pragmatismus durchgesetzt wurde. In der Union wird diskutiert, Kontingente für die Aufnahme von Flüchtlingen in den einzelnen Mitgliedstaaten nach Maßgabe unionsweiter Absprachen einzuführen, Hotspots für die frühzeitige Registrierung in den wichtigsten Einreisestaaten einzurichten, Fluchtursachen zu bekämpfen sowie die Außengrenzen effektiv zu kontrollieren. Damit soll erreicht werden, dass illegale in legale Migration umgewandelt werden kann.

 

Das Ziel der Ursachenbekämpfung ist ein Dauerthema im internationalen Diskurs seit den frühen 1980er Jahren. Wird mit einem Staat wie der Türkei in der Flüchtlingspolitik kooperiert, kommen jedoch Zweifel auf, ob dieses Ziel ernsthaft verfolgt wird. Es mag zutreffen, dass an Verhandlungen mit der Türkei zwecks Abbau des Zugangs von Flüchtlingen in die Union kein Weg vorbei führt. Doch sollte man dann auf die Verkündung hehrer Ziele wie die Bekämpfung von Fluchtursachen, die sich ohnehin an starken wirtschaftlichen Interessen vieler Mitgliedstaaten brechen, verzichten. Das Ziel, die irreguläre Migration in legale Bahnen umzulenken, kann möglicherweise dazu führen, dass sich die Anzahl spontan einreisender Flüchtlinge verringert. Dazu bedarf es aber realistischer Einwanderungsperspektiven. Schutzsuchende, die unter akutem Verfolgungsdruck stehen, ist andererseits ein Warten auf die Eröffnung legaler Einreisewege nicht zuzumuten, wenn diese nicht unverzüglich angeboten werden. Das gewohnheitsrechtlich anerkannte Refoulementverbot steht darüber hinaus einer Politik entgegen, welche die irreguläre Einreise schutzbedürftiger Personen deshalb versagen will, weil sie nicht zuvor die legalen Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Die Magna Charta des Flüchtlingsschutzes, die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, zielt ja gerade auf den Schutz der irregulär einreisenden Flüchtlinge, wie sich unschwer aus deren Artikel 31 und 33 entnehmen lässt. Maßnahmen, die dazu führen, dass gefährliche Fluchtrouten nicht mehr gewählt werden, weil realistische und zeitnahe Einreisemöglichkeiten bestehen, sind also dringend erforderlich, dürfen jedoch nicht den gebotenen Schutz spontan einreisender Flüchtlinge schwächen.

 

II.       Regelung des Zugangs zur Union

Der Aufteilung der Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen innerhalb der Union voran geht der Zugang in die Union. Es trifft zu, dass ein freier Binnenraum eine wirksame Sicherung der Außengrenzen der Union voraussetzt. Bei der Bekämpfung irregulärer Migration müssen aber Schutzsuchende identifiziert und innnerhalb der Union geschützt werden. In diesem Zusammenhang wird insbesondere in der Union und auch in Österreich eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen im jeweiligen Mitgliedstaat gefordert. Ob diese Grenze für die einzelnen Mitgliedstaaten oder für die Union als Ganzes festgelegt wird, ist im Ergebnis unerheblich. Jedenfalls ist eine unionsweit geltende Obergrenze mit Art. 18, 19 und 47 GRCh nur vereinbar, wenn eine Zurückweisung in sichere Drittstaaten möglich ist und gegen diese ein wirksamer Rechtsbehelf gewährleistet wird.[18] Soweit dagegen eingewandt wird, weder Völker- noch Verfassungs- noch Unionsrecht enthielten eine Verpflichtung zur unbegrenzten Aufnahme von Opfern eines Bürgerkrieges oder bei Staatenzerfall,[19] wird verkannt, dass es nicht um eine Aufnahme, sondern um einen Schutz von Flüchtlingen und Asylsuchenden vor Zurückweisung in ihr Herkunftsland geht, Art. 33 Abs. 1 GFK hiervor schützt und insbesondere Art. 3 EMRK hiergegen einen absoluten Schutz garantiert, der nicht unter einem quantitativen Vorbehalt steht.

 

Die Zurückweisung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Drittstaaten ist zwar völkerrechtlich zulässig. Sie müssen dort jedoch wirksam vor einer Abschiebung in den Herkunftsstaat geschützt werden. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, die Türkei zu einem sicheren Drittstaat zu erklären. Dies scheitert jedoch bereits daran, dass sie die GFK nur auf Flüchtlinge aus europäischen Ländern anwendet. Nach Art. 38 Abs. 1 Buchst. e) RL 2013/32/EU muss im sicheren Drittstaat die Möglichkeit bestehen, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß der GFK zu erhalten. Allerdings findet die GFK keine Anwendung, wenn sich die Flüchtlinge noch außerhalb der Union befinden. Damit diese davon abgehalten werden, die Reise in die Union anzutreten, hat der Europäische Rat am 29. November 2015 mit der Türkei einen gemeinsamen Aktionsplan beschlossen. In dieser leben derzeit 2,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. 2015 kamen aus der Türkei 750.000 Asylsuchende in die Union. Nach dem Aktionsplan soll die Türkei drei Milliarden Euro als initiale Finanzierung erhalten, um eine bessere Versorgung der Flüchtlinge sicherzustellen. Die derzeitige Krise im Flüchtlingsschutz hätte sich sicherlich nicht derart dramatisch entwickelt, wenn die Union und die einzelnen Mitgliedstaaten die Länder, welche die Hauptlast der Verantwortung für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge tragen, wie der Libanon, Jordanien und die Türkei, in der Vergangenheit finanziell besser unterstützt hätten. In diesem Fall hätten die Flüchtlinge wohl nicht in dem Umfang wie jetzt den Weg nach Europa gewählt, da sich ihre Situation in diesen Ländern wohl kaum so perspektivlos entwickelt hätte. Unabhängig hiervon dürfen Asylsuchende und Flüchtlinge, die sich aus der Türkei oder anderen Transitstaaten auf den Weg in die Union machen, nicht unter Hinweis auf den gemeinsamen Aktionsplan in die Türkei zurückgewiesen werden. Vielmehr haben sie einen Anspruch auf Prüfung ihrer Einwände, dass sie dort nicht wirksam gegen eine Abschiebung in ihr Herkunftsland geschützt und auch keinen Schutz nach der GFK erhalten werden.  

 

Zur zügigeren und effektiveren Regelung des Zugangs in die Union hat diese beschlossen „Hospots“ an den Außengrenzen, insbesondere in Griechenland (Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos) und Italien (Lampedusa) und Trapani (West-Sizilien) vorgesehen. Unterstützen will die Union diese lokalen Hotspots durch Fachkräfte aus verschiedenen Agenturen, Polizeikräfte und Asyl- und IT-Experten. Unklar ist aber der Aufgabenbereich dieser Hotspots. Die Asylsuchenden sollen registriert und ihre Asylgründe einer ersten Prüfung unterzogen werden. Werden diese nicht für ausreichend erachtet, soll unverzüglich die Rückführung erfolgen. Da diese Anlaufstellen zumeist auf Inseln mit nicht ausreichenden Strukturen der Rechtschutzfürsorge gelegen sind, ist dieses Modell nicht akzeptabel und würde Art. 13 EMRK zuwiderlaufen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vor der Abweisung von Flüchtlingen gegen die Verwaltungsentscheidung ein wirksamer Rechtsbehelf zu eröffnen und dabei sicherzustellen ist, dass eine „unabhängige und genaue Prüfung“ einer Beschwerde zu ermöglichen ist, wenn vorgetragen wird, dass im Falle der Abschiebung ernsthafte Gründe dafür sprechen, dass eine tatsächliche Gefahr unmenschlicher Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.[20]

 

Akzteptabel sind Hotspots daher nur, wenn lediglich eine Identifizierung sowie Registrierung der Asylsuchenden in den Hotspots vorgenommen wird, bevor sie innerhalb der Union verteilt werden. Die Vorstellung, dass Hot Spots Anerkennungsverfahren in Deutschland erübrigten,[21] drückt aber die Hoffnungen aus, die mit ihnen verbunden werden. Eine inhaltliche Vorsortierung der Asylgründe mit anschließender unverzüglicher Rückführung würde tragenden Prinzipen des internationalen Flüchtlingsschutzes und menschenrechtlicher Abkommen zuwiderlaufen, wenn keine wirksamen Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen. Hierüber kann den Verlautbarungen der Union und der Mitgliedstaaten aber nichts entnommen werden. Es spricht vielmehr Vieles dafür, dass sich auf den bezeichneten Inseln weder eine zureichende anwaltliche Vertretung noch ein wirksames Rechtsschutzsystem organisieren lässt. Beides ist aber nach der Verfahrensrichtlinie (Art. 22, 23, 46 RL 2013/32/EU) unionsrechtlich gefordert. Zusammengefasst ist daher festzuhalten, dass Hot Spots dazu beitragen können, unmittelbar zu Beginn der Einreise in die Union die Identität der Flüchtlinge zu klären und mögliche Sicherheitsrisiken auszuschalten. Mit dieser Aufgabenstellung sind sie zu begrüßen. Keinesfalls aber dürfen dort die Asylanträge inhaltlich geprüft und von dort Rückführungen organisiert werden.

 

III.      Verteilung der Asylsuchenden innerhalb der Union

Nach der Einreise und Identitätsklärung stellt sich die Frage, nach welchen Regeln die Weiterleitung von den Hotspots in die Union erfolgen soll. Bislang war das Dubliner System das Fundament des europäischen Asylsystems, welches seinerseits dem europäischen Grundrecht auf Asyl nach Art. 18 GRCh zur Geltung verhelfen soll. Kontrovers wird derzeit diskutiert, ob das Dubliner System aufgegeben werden soll oder ob es mit dem Geist der Grundrechtscharta ausgefüllt werden kann. Jedenfalls bedarf das europäische Asylrecht gemeinsam vereinbarter und von allen anerkannter Standards, die erstens eine relativ gleichmäßige Verteilung der Asylsuchenden und Flüchtlinge in der Union und zweitens eine menschenwürdige und wirksame Schutzgewährung der Asylsuchenden und Flüchtlinge sicherstellen.

    

Prägendes Kennzeichen des Dubliner Systems war von Beginn an das Zuständigkeitskriterium des Einreisestaates. Wird dieses aufgegeben, muss nicht notwendigerweise das System als Ganzes zusammenbrechen. Dass es aufgegeben werden muss, verdeutlicht bereits die Einrichtung von Hotspots in den Grenzstaaten. Denn Ziel dieser Hotspots ist ja eine Weiterleitung an einen Mitgliedstaat, der nicht identisch mit dem Gaststaat der Hotspots, also dem Einreisestaat, ist. Was dringend geboten ist, sind Kriterien für die Aufteilung der Verantwortung für Asylsuchende und Flüchtlinge, die nicht einseitig allein die Interessen der Mitgliedstaaten berücksichtigen, sondern insbesondere auch die individuellen, familiären und kulturellen Interessen und Bindungen der Flüchtlinge. Im derzeitigen Dubliner System werden diese aber nicht im gebotenen Umfang berücksichtigt.

 

Zwei alternative Strategien werden derzeit diskutiert: Einerseits wird gefordert, den Asylsuchenden selbst die freie Wahl ihres Aufnahmelandes zu überlassen. Andererseits wird eine Verteilung nach Maßgabe verbindlicher Quoten entsprechend dem deutschen Modell der Aufteilung der Asylsuchenden auf die Bundesländer (Königsteiner Schlüssel)[22] diskutiert.  Darüber hinaus wird vorgeschlagen, einen Krisenmechanismus in die Dubliner Verordnung III einzufügen, diese aber im Übrigen zu belassen wie sie ist.[23] Einen derartigen Vorschlag hatte die Kommission bereits 2008 im Vorschlag zur Entwicklung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 unterbreitet, konnte sich hiermit aber gegen den Widerstand der Mitgliedstaaten nicht durchsetzen. Im Übrigen würde die Beibehaltung des Dubliner Systems in seiner jetzigen Form die Krise nicht nur nicht lösen, sondern verschärfen. Wird dieser Auffassung zugestimmt, bleiben nur zwei Modelle übrig, entweder die Einführung des Prinzips der freien Wahl des Aufnahmelandes oder die Etablierung eines Quotenmodells.

 

Gegen das Prinzip der freien Wahl wird eingewandt, dass dieses dem politischen Ziel der gemeinsamen Verantwortung aller Mitgliedstaaten für Flüchtlinge zuwiderlaufen würde, weil damit die nicht von den Asylsuchenden ausgewählten Staaten aus ihrer Verantwortung entlassen und die um Schutz gebetenen Mitgliedstaaten übermäßig belastet würden. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen, weil das Ziel des solidarischen Miteinanders der Mitgliedstaaten und damit der gemeinsamen Übernahme von Verantwortung im Flüchtlingsschutz nicht aufgegeben werden darf. Dieses Ziel würde auf den ersten Blick durch das Quotenmodell besser erreicht werden. Andererseits lehnen insbesondere die osteuropäischen Mitgliedstaaten das Quotenmodell ab. Die Tatsache, dass von den vereinbarten 160.000 Asylsuchenden aus Italien und Griechenland, die von den anderen Mitgliedstaaten übernommen werden sollen, Mitte Januar erst 322 verteilt worden waren, weist aber darauf hin, dass nicht nur die osteuropäischen, sondern auch andere Mitgliedstaaten das Quotenmodell ablehnen. Wer weiterhin für das Quotenmodell streiten will, muss sich daher der Frage stellen, in welchem Zeitraum eine gleichmäßige quotenmäßige Aufteilung innerhalb der Union durchgesetzt werden kann, ohne dass dadurch größere Konflikte, Störungen und desintegrative Friktionen in der Union hervorgerufen werden. Jedenfalls bedarf es hierfür eines mühevollen and langwierigen Überzeugungsprozesses, der insbesondere die historisch hervorgebrachten nationalen Besonderheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigt. Für das Prinzip der freien Wahl des Aufnahmestaates spricht, dass damit die derzeit hohe irreguläre Binnenwanderung in der Union abgebaut werden könnte. Gerade dieses Argument spricht gegen ein Quotenmodell, weil es das Problem der irregulären Weiterwanderung nicht im Ansatz lösen könnte. Werden Asylsuchende gegen ihren Willen von ihren Familien und kulturellen Gemeinschaften getrennt und entsprechend der Quote fernab von diesen anderen Mitgliedstaaten zugewiesen, werden sie dort nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht bleiben.

 

Es bietet sich daher ein Mischmodell an, dass das Prinzip der freien Wahl unter Berücksichtigung der Grundrechte der EMRK und der Grundrechtecharta mit dem Quotensystem verbindet. Weitaus stärker als bislang müssten dabei die individuellen, familiären und kulturellen Bindungen der Asylsuchenden bei der Aufteilung der Verantwortung berücksichtigt werden. Insbesondere dürfte das Quotenmodell nicht als derart abstrakt gehandhabte Verteilungsmaschine eingesetzt werden wie das derzeitige Dubliner System. Daher sollte geregelt werden, dass eine zwangsweise Überstellung an einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen eines Quotenmodells ausscheidet, wenn im aufgesuchten oder angestrebten Mitgliedstaat familiäre und vergleichbare Bindungen bestehen. Darüber hinaus lehren die Fehler der Vergangenheit, dass ein mechanistisches, abstraktes Verteilungssystem, dass alle Mitgliedstaaten den selben Bedingungen unterwirft, politisch nicht durchsetzbar ist. Die Europäische Union besteht aus einer heterogenen Struktur von Mitgliedstaaten mit sehr unterschiedlichen Traditionen, Strukturen und Erfahrungen in der Einwanderungsfrage. Lösungsmodelle, die diese Realität nicht zur Kenntnis nehmen, werden ebenso kläglich scheitern wie das bisherige abstrakte Zuständigkeitssystem.

 

Zusammenfassend bleibt also festzustellen, dass das Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates gegenüber dem Quotenmodell zu bevorzugen ist. Bestehen in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Migrationsstrukturen, wird es auch sich heraus zu einer relativ gleichmäßigen Verteilung führen. Dass es derzeit zu einer ungleichmäßigen Aufteilung der Flüchtlinge in der Union führt, ist in den unterschiedlichen Migrationserfahrungen der einzelnen Mitgliedstaaen bedingt. Daher kann überlegt werden, ein Quotenmodell zu versuchen, das auf Freiwilligkeit der teilnehmenden Staaten setzt, die individuellen, familiären und ähnlich gewichtigen Interessen der Asylsuchenden berücksichtigt und zunächst nur von einem kleineren Kreis von Mitgliedstaaten mit Migrationserfahrung getragen wird. Wie die Erwägungsgründe Nr. 41 und 42 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 belegen, lässt auch das geltende Unionsrecht zu, dass nicht alle Mitgliedstaaten am Dubliner System teilnehmen.

 

IV.       Für ein europäisches Asylsystem der Solidarität mit langem Atem

Die Fehler der Vergangenheit lehren, dass ein europäisches Asylsystem gefordert ist, das  Ungleichzeitigkeiten auszuhalten in der Lage ist, die Schnellen anspornt und den Langsamen Geduld gegenüber aufbringt. Modelle hierfür hat die Union bereits versucht. Prominent zu nennen sind hier das Schengener und das Eurosystem. Beide Systeme vereinen zunächst einen kleinen oder kleineren Kreis von Mitgliedstaaten, sind aber offen für die anderen. Das europäische Asylsystem vereint alle Mitgliedstaaten in dem politischen Willen, gemeinsam Verantwortung für die Flüchtlinge zu übernehmen. Bei der Durchsetzung der hierfür erforderlichen Maßnahmen gebietet aber der uniionsrechtliche Grundsatz der Solidarität, auf die Mitgliedstaaten ohne Migrationserfahrungen Rücksicht zu nehmen und ihnen Zeit einzuräumen, bis auch sie in der Lage sind, wie die anderen die volle Verantwortung zu übernehmen.  

 

Wird das Gefüge der Mitgliedstaaten in den Blick genommen, ergibt sich, dass sich in den einzelnen Staaten die gesellschafte Akzeptanz für die Flüchtlingsaufnahme sehr unterschiedlich heraus gebildet hat. Die traditionellen Kernstaaten der Europäischen Union sind seit Mitte der 1950er Jahre Aufnahmegesellschaften geworden.[24] Für einen entsprechenden Wandel der gesellschaftlichen Auffassungen seit Beginn dieses Jahrhunderts gibt es eine Reihe von Evidenzen. Die Gesellschaften in Mittel- und Nordeuropa verstehen sich zunehmend als Einwanderungsgesellschaften. Deshalb kommt ihnen bei der Aufnahme von Flüchtlingen eine führende Rolle zu. Sie waren und sind es, die das europäische Projekt seit seinem Beginn im Jahre 1957 maßgebend inspiriert und gefördert haben. Ungeachtet derzeit hoch gespülter antieuropäischer Ressentiments in vielen Gesellschaften der Europäischen Union ist in diesen Staaten das Verständnis vorherrschend, dass die Weiterverfolgung des europäischen Projekts für die eigene nationale Entwicklung von grundlegender Bedeutung ist. Daher sollte auch zunächst unter ihnen ein System entwickelt werden, das auf das Prinzip der freien Wahl des Aufnahmelandes setzt und zur relativ gleichmäßigen Auslastung der teilnehmenden Staaten korrigierend das Quotenmodell einsetzt. Dass die 2004 beigetretenen Staaten bislang nicht die erforderlichen Voraussetzungen für die Aufnahme von Flüchtlingen haben schaffen können, ist maßgebend in der Arroganz und fehlenden Nachgiebigkeit der ursprünglichen Mitgliedstsaaten begründet. Erstere sollten nach den gleichen Regeln wie letztere Flüchtlinge aufnehmen. Das konnte nicht gelingen, weil die Erfahrungen und Strukturen, insbesondere aber die gesellschaftliche Akzeptanz in diesen Staaten fehlten und auch weiterhin fehlen. In Polen und Rumänien z.B. besitzen nicht einmal 0,3 Prozent eine andere als die polnische bzw. rumänische Nationalität. In Bulgarien, Kroatien, der Slowakei und Ungarn  sind weniger als zwei Prozent Migranten. Demgegenüber beträgt die entsprechende Quote in Deutschland neun Prozent. Die augenblickliche Krise ist also im Wesentlichen die Folge der Fehler, die die ursprünglichen Mitgliedstaaten bei der Aunahme der neuen Mitgliedstaaten gemacht haben. Verantwortung für diese Fehler zu übernehmen, heißt, ein System der Solidarität zu entwickeln, das mit langem Atem das gemeinsame Ziel der Übernahme von Verantwortung verfolgt, auf dem Weg dorthin aber Geduld übt und den anderen Zeit lässt, Migrationsstrukturen zu entwickeln und gesellschaftliche Akzeptanz herauszubilden. 

 

Für die Flüchtlingsfrage bedarf es der Erkenntnis, dass der seit 1997 eingeschlagene Weg zwar richtig ist und der Zugang nach sowie die Wanderung innerhalb Europas gemeinsamer Regelungen bedürfen. Die Vorstellungen darüber, wie er weiter fortgeschritten werden kann und darf, bedarf  aber der Überprüfung. In der zusammenwachsenden europäischen Staatenwelt gibt es keinen Weg zurück vor 1997, unabhängig davon, dass die damals vorherrschende Regellosigkeit der Praxis der Mitgliedstaaten und die Schutzlosigkeit der Flüchtlinge inakzeptabel sind. Dass alle Mitgliedstaaten in Europa ihren Beitrag zur Erfüllung der Aufgabe des Flüchtlingsschutzes leisten müssen, kann nicht überzeugend bestritten werden, aber jeder Mitgliedstaat kann dieser Aufgabe nur nach seinem Vermögen und unter Berücksichtigung seiner spezifischen historischen, politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten nachkommen. Mit der Einsicht in den traditionellen Kernstaaten, dass die solidarische und gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeit für die Flüchtlinge in Europa ihnen aufgrund ihrer historisch und politisch zugewachsenen Privilegien besondere Aufgaben auferlegt, kann erreicht werden, dass den desintegrativen, antieuropäischen Tendenzen entgegen gewirkt und die Idee der europäischen Integration gefördert wird. Die Integration der Flüchtlinge in den Mitgliedstaaten dient damit auch der Idee der europäischen Integration.

 

Der Lerneffekt der Flüchtlingsschutzkrise ist unabweisbar: Die Zivilgesellschaften müssen für die europäische Integration streiten, diese zum Ziel ihres Handelns machen. Für den Flüchtlingsschutz bedeutet dies, die Realität zur Kenntnis nehmen und dementsprechend gemeinsame Lösungsansätze entwickeln. Die Realität heißt: Die traditionellen Einwandererstaaten liegen im Zentrum, nicht an den Rändern. Gesellschaften, die keine Einwanderungstradition haben, fehlt es an gesellschaftlicher Akzeptanz für die Aufgabe des Flüchtlingsschutzes. Die Hauptverantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen werden daher weiterhin die traditionellen Mitgliedstaaten im Zentrum tragen. Es wird noch länger dauern, bis die anderen Staaten migrantische Strukturen und gesellschaftliche Akzeptanz für die Flüchtlinge entwickelt haben werden. Das hat bei uns über fünf Jahrzehnte gedauert. Den seit 2004 hinzu gekommenen Mitgliedstaaten sollte dieser langdauernde Anpassungsprozess nicht verweigert werden. Das gebietet auch das politische Ziel der Solidarität unter den Mitgliedstaaten. Dies aber bedeutet, dass zunächst die traditionellen Einwanderungsstaaten in der Union bei der Aufnahme von Asylsuchenden und Flüchtlingen die Hauptlast tragen sollten und langfristig geeignete Mittel entwickelt werden, um auch in den anderen Mitgliedstaat gesellschaftliche Akzeptanz für die Flüchtlingsaufnahme hervorzubringen sowie die hierfür erforderlichen Strukturen aufzubauen.

 

Marx, 24. Januar 2016

 

 

 

[1]BVerfGE 94, 49 (92) = NVwZ 1996, 700.

[2]Leggewie, Eine Nation genügt siich selbst, in: FAZ vom 9. November 2015

[3]Amnesty international, Bundesregierung irgnoriert Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, 21. Januar 2017.

[4]EuGH, NVwZ 2012, 417 (420 f.) Rn 99 ff – N.S.

[5]EGMR, NVwZ 2011, 413 (417 f.) - M.S.S.

[6]BVerwG, NVwZ 2014, 1677 (1679) Rn 6 = InfAuslR 2014, 352.

[7]Die nachfolgenden Ausführungen im Abschnitt II beruhen auf dem „Memorandum. Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union. Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit“, von sieben Flüchtlings- und Wohlfahrtorganisationen, März 2006,  das ich inhaltlich entworfen und bis zur Abstimmung der Endfassung inhaltlich koordiniert habe. Der Text des Memorandums ist unter www.ra.marx.de/Interessantes/Dokumente oder  www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/STARTSEITE/Memorandum_Dublin_deutsch.pdf abrufbar.

[8]Hailbronner, AuslR B 2 § 27a AsylVfG Rn. 30; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG II - § 27a AsylVfG Rn. 64.

[9]European Council on Refugees and Exiles, Sharing Responsibility for Refugee Protection in Europe: Dublin        Reconsidered, March 2008, S. 16; Weinzierl, Flüchtlinge: Schutz und Abwehr in der erweiterten EU, 2005, S .160; s. auch Blake, The Dublin Convention and Rights of Asylum Seekers in the European Union, in: Implementing Amsterdam (Guild/Harlow), 2001, S. 94 (108 ff.; Marx, European Journal of Migration and Law 2001, 7 (18 f.); Schröder, ZAR 2003, 126 (130).

[10]Pelzer, Unsolidarisches Europa, in: KJ 2011, 262 (263).

[11]EGMR, NVwZ 2012, 8098 (816) Rn 187 ff. - Hirsi.

[12]Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b) der Seeaußengrenzenverordnung (EU) Nr., 656/2014 vom 15. Mai 2014.

[13]Achermann, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit fluchtverursachender Staaten, 1997, S. 99 ff.; Epiney, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten für rechtswidriges Verhalten im Zusammenhang mit Aktionen Privater, 1991, S. 98 ff, 135 ff.

[14] BVerwG, Urt. v. 27.10.2015 – BVerwG 1 C 32.14 Rn 22 f.; VGH BW, Urt. v. 26.02.2014 – A 3 S 698/13; Hess.VGH, AuAS 2014, 247, 248; Nieders.OVG, Urt. v. 25.06.2015 – 11 LB 248/14; Nieders.OVG, InfAuslR 2016, 35, 36; VG Stuttgart, Urt. v. 28.02.2014 A 12 K 383/14; VG Berlin, Beschl. v. 19.03.2014 – VG 33 L 90.14 A; a.A. VG Würzburg, Beschl. v. 09.04.2014 – W 2 S 14.50022; VG München, Urt. v. 23.06.2015 – M 17 K 14.50705; VG München, Urt. v. 26.11.2015 – M 2 K 15.50205; VG Minden, AuAS 2015, 140, 143.

[15]EuGH, NVwZ 2014, 208 (209) Rn 48 – Abdullahi.

[16]So Dörig/Langenfeld, Vollharmonisierung des Flüchtlingsrechts in Europa, in: NJW 2016, 1, (5).

[17]Süddeutsche Zeitung vom 16./17. Januar 2016, S. 7.

[18]  Deutscher Bundestag, Unterabteilung Europa, Obergrenzen für Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge im Lichte des EU-Rechts, 16. Dezember 2015, S. 22; ebenso aus verfassungsrechtlicher Sicht Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme zur Debatte um „Obergenzen“ beim Recht auf Asyl in Deutschland, 30. November 2015.

[19]Di Fabio, Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem, 8. Januar 2016, S. 119 f., Thesen 9 und 10.

[20]EGMR, NVwZ 2012, 8098 (816) Rn 187 ff. - Hirsi.

[21]So Dörig/Langenfeld, Vollharmonisierung des Flüchtlingsrechts in Europa, in: NJW 2016, 1.

[22]S. hierzu § 45 AsylG, Marx, Kommentar zum AsylVfG, 8. Aufl., 2015, § 45 Rn 3 ff.

[23]Council of the European Union, Proposal for a Regulation establishing a crisis relocation mechanism and amending Regulation (EU) No 604/2013, 3 December 2015, 14951/15.

[24]S. hierzu Marx, Die Krise des europäischen Flüchtlingsrechts, S. 303 (329 ff.), in: Gesellschaftliche Herausforderungen des Rechts. Gedächtnisschrift für Helmut Rittstieg, Krajewski/Reuß/Tabbara (Hrsg.), 2015.

 

 

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