I.Gesetzliche Regelung:
Die Berufung ist geregelt in den §§ 312-332 StPO.
II.Statthaftigkeit (§ 312 StPO):
Die Berufung ist gerichtet auf die Überprüfung von Urteilen, die das Amtsgericht (sowohl der Strafrichter als Einzelrichter, als auch das Schöffengericht) gefällt hat (§ 312 StPO). Eine Überprüfung von erstinstanzlichen Urteilen des Landgerichts oder des OLG kann nicht mit der Berufung, sondern nur mit der Revision erreicht werden. In der Berufung wird der Sachverhalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht neu untersucht (zweite Tatsacheninstanz; es können neue Tatsachen und Beweismittel eingeführt werden).
III.Einschränkung: Annahme der Berufung (§ 313 I StPO): in gesondert geregelten Fällen bedarf es einer Annahme:
– Verurteilung zu einer Geldstrafe von nicht mehr als 15 Tagessätzen
– Verwarnung (§ 59 StGB) mit vorbehaltener Strafe von nicht mehr als 15 Tagessätzen
– Verurteilung zu einer Geldbuße nach dem OWiG
– Freispruch des Angeklagten, wenn Staatsanwaltschaft nicht mehr als 30 Tagessätze Geldstrafe beantragt hatte
– Einstellung des Verfahrens, wenn Staatsanwaltschaft nicht mehr als 30 Tagessätze Geldstrafe beantragt hatte.
Die Berufung wird angenommen, wenn sie nicht offensichtlich unbegründet ist (§ 313 II 1 StPO). Sonst ist sie als unzulässig zu verwerfen (§ 313 II 2 StPO).
Die Entscheidung erfolgt durch Beschluss, der im Falle der Annahme der Berufung keiner Begründung bedarf (§ 322a S. 3 StPO). Dieser ist nach § 322a S. 2 StPO unanfechtbar. Einzige Ausnahme: eine sofortige Beschwerde ist zulässig, wenn behauptet wird, es läge gar kein Fall der Annahmeberufung vor (§ 322 II StPO analog).
IV.Regelungsumfang: Es findet eine Überprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht statt = zweite Tatsacheninstanz, d.h. es können neue Tatsachen und Beweismittel eingeführt werden (§ 323 III StPO).
V.Zuständigkeit: Funktionell zuständig für die Berufungsentscheidung ist die kleine Strafkammer des Landgerichts, §§ 74 III, 76 I 1 Alt. 2 GVG; Ausnahme: nach § 76 VI GVG ist ein zweiter Berufsrichter hinzuzuziehen, wenn es sich um eine Berufung gegen ein Urteil des erweiterten Schöffengerichtes (§ 29 II GVG) handelt.
VI.Form: Die Berufung ist (beim Ausgangsgericht) zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich einzulegen (§ 314 StPO). Eine Begründung ist zulässig, aber nicht erforderlich (§ 317 StPO). Das Rechtsmittel muss nicht als „Berufung“ bezeichnet werden. Unterbleibt die genaue Bezeichnung des Rechtsmittels endgültig, so ist von der Berufung auszugehen, da sie im Hinblick auf die Revision das umfassendere Rechtsmittel darstellt. Innerhalb der Revisionsbegründungsfrist, kann der Beschwerdeführer seine zunächst eingelegte Berufung in eine Revision umändern.
VII.Frist: Die Berufung muss binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils eingelegt werden, § 314 StPO; war der Angeklagte bei der Verkündung nicht dabei, beginnt die Frist mit der Zustellung, § 314 II StPO.
VIII.Beschränkung: Eine Beschränkung auf einzelne Punkte ist zulässig (§ 318 StPO). Findet keine Beschränkung statt, wird das gesamte Urteil überprüft.
IX.Rechtswirkungen: Suspensiveffekt (§ 316 I StPO), d.h. Hemmung der Rechtskraft, sowie Devolutiveffekt, d.h. die Berufung bringt die Sache in die nächst höhere Instanz.
X.Ablauf des Verfahrens
1.Ausgangsinstanz: Das Amtsgericht prüft die Rechtzeitigkeit der Einlegung und leitet die Berufung dann weiter. Ist die Berufung verspätet eingelegt, so verwirft das Amtsgericht die Berufung als unzulässig, § 319 I StPO.
2.Zulässigkeitsprüfung: Erachtet das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig, kann es sie nach § 322 StPO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss als unzulässig verwerfen. Ist die Berufung zulässig, wird gegebenenfalls über eine Annahme (§§ 313, 322a StPO) entschieden. Stellt sich erst im Laufe der Zeit ein Verfahrenshindernis ein, so kann das Gericht nach § 206a StPO jederzeit das Verfahren außerhalb der Hauptverhandlung durch Beschluss einstellen.
3.Hauptverhandlung: entspricht im Wesentlichen derjenigen der ersten Instanz (§§ 323, 324, 325 StPO). Zu beachten ist, wie bei Ausbleiben des Angeklagten zu verfahren ist: Nachdem der EGMR (EGMR NStZ 2013, 350) einen Verstoß des § 329 I 1 StPO a.F. gegen Art. 6 III lit. c EMRK festgestellt hatte, erweiterte der Gesetzgeber mit Gesetz vom 25. Juli 2015 (BGBl. I 1332) die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten im Termin zur Berufungsverhandlung: Nunmehr findet die Hauptverhandlung gem. § 329 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 StPO auch in Abwesenheit des Angeklagten statt, wenn seine Anwesenheit nicht erforderlich ist und er durch einen Verteidiger mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht vertreten wird. Die Vertretungsvollmacht muss den Verteidiger zur Abwesenheitsvertretung in einer (bestimmt bezeichneten) Berufungshauptverhandlung ermächtigen; die allgemeine Verteidigervollmacht reicht insoweit nicht aus. Bei einer Berufung der StA ist eine Verhandlung in Abwesenheit des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten auch ohne dessen Verteidiger möglich, soweit die Anwesenheit des Angeklagten nicht erforderlich ist, § 329 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 StPO. Ob die Anwesenheit des Angeklagten erforderlich ist, ist insbesondere nach der Amtsermittlungspflicht (§ 244 II StPO) zu bestimmen. In konventionsfreundlicher Auslegung wird man voraussetzen müssen, dass die Anwesenheit des Angeklagten zur Urteilsfindung wirklich unerlässlich ist (wie z.B. bei Gegenüberstellungen).
4.Entscheidung: Stellt sich die Berufung nachträglich als unzulässig heraus, wird die Berufung als unzulässig verworfen; fehlt eine Prozessvoraussetzung, wird das Verfahren durch Urteil eingestellt (§ 260 III StPO). Ist die Berufung begründet, hebt das Gericht das erstinstanzliche Urteil auf und entscheidet selbst in der Sache (§ 328 I StPO). Dies gilt nur für den Angeklagten, der durch die Berufung betroffen ist, nicht für eventuelle Mitangeklagte der 1. Instanz. Ist die Berufung teilweise begründet, wird das Urteil teilweise aufgehoben. Ist die Berufung unbegründet, wird sie als unbegründet verworfen.
Literatur/Lehrbücher: Heinrich/Reinbacher, Examinatorium Strafprozessrecht, 3. Auflage 2021, Problem 44.
Literatur/Aufsätze: Böhm, Die strafrechtliche Abwesenheitsverhandlung im Berufungsverfahren, NJW 2015, 3132; Dreyer, Die Wirksamkeit von Rechtsmittelbeschränkungen in der Berufungsinstanz – Ein Dauerbrenner, NStZ 2018, 312; Engel, Die Berufungsverwerfung aufgrund Säumnis des Angeklagten im Lichte der jüngsten Rechtsprechung des EGMR sowie des OLG München, ZJS 2013, 339; Esser, (Nichts) Neues aus Straßburg - Effektive Verteidigung bei Nichterscheinen des Angeklagten zu Beginn der Hauptverhandlung in der Berufungsinstanz (§ 329 Abs. 1 S. 1 StPO), StV 2013, 331; Esser/Gaede/Tsambikakis, Übersicht zur Rechtsprechung des EGMR in den Jahren 2008 bis Mitte 2010 – Teil II, NStZ 2011, 140; Frisch, Verwerfung der Berufung ohne Sachverhandlung und Recht auf Verteidigung – Zur Änderung des § 329 StPO, NStZ 2015, 69; Gerst, Die Konventionsgarantie des Art. 6 III c und die Abwesenheitsverwerfung gemäß § 329 I 1 StPO – Ein kleiner Schritt für Straßburg, ein zu großer für Deutschland?, NStZ 2013, 310; Jansen, Verwerfung der Berufung trotz Verteidigung des abwesenden Angeklagten nach § 329 StPO n.F. – nunmehr konventionskonform?, StV 2020, 59; Kudlich, Aktuelle Probleme der strafprozessualen Berufung, JA 2000, 588; ders., Zur Wirksamkeit einer telefonisch eingelegten Berufung, JuS 2005, 660; Mansdörfer/Timmerbeil, Grundfälle zur Tenorierung strafrechtlicher Entscheidungen, JuS 2001, 1209; Meyer-Mews, Die Völkerrechts- und Konventionswidrigkeit des Verwerfungsurteils gem. § 329 I 1 StPO, NJW 2002, 1928; Mosbacher, Straßburg locuta - § 329 I StPO finita?, NStZ 2013, 312; Ullenboom, Die Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten gem. § 329 StPO, StV 2019, 643.
Rechtsprechung: EGMR NStZ 2013, 350 – Recht auf faires Verfahren (Verwerfung der Berufung wegen unentschuldigter Abwesenheit des Angeklagten); BVerfGE 74, 358 – Unschuldsvermutung (Berücksichtigung der EMRK bei der Auslegung des GG); BVerfGE 111, 307 – Görgülü (fehlende Berücksichtigung der EMRK bei der Auslegung des einfachen Rechts kann gegen Grundrechte i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen); BVerfG NJW 1996, 2785 – Zwillingsbruder (Annahmeberufung); BGHSt 2, 63 – Vorbehalt (Zulässigkeit der Einlegung eines nicht genau bezeichneten Rechtsmittels); BGHSt 5, 338 – Sprungrevision (Zulässigkeit des Übergangs von Berufung in Revision); BGHSt 40, 395 – Vollrausch (Anforderungen an den Übergang von Berufung zur Sprungrevision); BGHSt 47, 32 – Führerschein (keine Berufungsbeschränkung bei enger Verbundenheit der getroffenen Entscheidungen); BGH NJW 2017, 2482 – Fahren ohne Fahrerlaubnis (Wirksamkeit einer Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch); BGH NJW 2019, 1008 - Einziehung in der Rechtsmittelinstanz – (Schlechterstellungsverbot); BayObLG NStZ-RR 2000, 307 – Ausbleiben des Angeklagten (§ 329 Abs. 1 StPO verstößt nicht gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK); OLG Bamberg NStZ-RR 2016, 20 – Konkludente Berufungsannahme (Anfechtbarkeit der späteren Nichtannahmeentscheidung in analoger Anwendung des § 322 II StPO mit der sofortigen Beschwerde); OLG Hamburg NStZ 2017, 607 – Berufungshauptverhandlung (Anwesenheitserfordernis des Angeklagten); OLG Nürnberg NStZ 2017, 494 – Wirksamkeit einer Berufungseinlegung (für die Wahrung der Schriftfform gem. § 314 I StPO ist eine handschriftliche Unterzeichnung der Berufungsschrift nicht unbedingt erforderlich); OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294 – Erstinstanzliche Verständigung (Folgewirkungen in der Berufungsinstanz); OLG München NStZ 2013, 358 – Nichterscheinen zur Berufung (Verbindlichkeit des Wortlauts des § 329 Abs. 1 StPO); OLG Celle NStZ 2013, 615 – Nichterscheinen zur Berufung (Verbindlichkeit des Wortlauts des § 329 Abs. 1 StPO); OLG Hamburg JR 1999, 479 – Hanfsamen (Anfechtung des Nichtannahmebeschlusses)