von Prof. Dr. Matthias Casper
Gegen „Kuschelnoten“ an Jura-Fakultäten vorzugehen, ist ein guter Gedanke. Aber die Justizminister haben den falschen Weg eingeschlagen: den der Weichspülung.
Der Juristenausbildung droht die permanente Reformierung. Die letzte große Umgestaltung des Deutschen Richtergesetzes liegt keine zwanzig Jahre zurück. Sie hatte sich zumindest teilweise von der vor etwa 200 Jahren in Preußen begründeten Tradition emanzipiert, dass Juristen zwar an einer Universität ausgebildet, aber ausschließlich vom Staat geprüft werden. Professoren wirken dort zwar mit, organisieren die Prüfung aber nicht. Anstatt allein auf eine Generalabrechnung am Ende der Ausbildung zu setzen, hatte man sich 2003 zu der grundlegenden Änderung durchgerungen, 30 Prozent der Staatsprüfung auf die Universitäten zu verlagern. Diese sollten für eine erste Spezialisierung junger Juristen in Form von Schwerpunktbereichen sorgen. Die dort erbrachten Leistungen prüfen die Fakultäten seither selbständig. Zwingende Vorgaben für Prüfungsformate in der Schwerpunktausbildung gibt es bisher kaum.
Damit wird den Fakultäten die Möglichkeit gegeben, ihr eigenes Profil zu entwickeln und im Wettbewerb untereinander zu überzeugen. Dabei entwickelte sich die Korrelation der Noten im universitären Schwerpunkt und im Staatsteil der ersten Prüfung nicht überall gleich. Gerade an einigen süddeutschen Universitäten werden im Schwerpunkt Noten vergeben, die in keinem realistischen Verhältnis zu den Ergebnissen in der staatlichen Prüfung stehen. Begriffe wie „Traum“- beziehungsweise „Kuschelnoten“ machten die Runde.
Diese Fehlentwicklung hat die Politik seit einiger Zeit zu Recht auf den Plan gerufen. Die Ursache schien alsbald ausgemacht: die Unterschiede in den Prüfungsformaten der Schwerpunkte zwischen den Fakultäten. Dabei wurden vor allem die Prüfungsordnungen der Fakultäten kritisiert, die zu jeder Vorlesung eine Abschlussklausur verlangen und auf mündliche Prüfungen ganz verzichten.
Dieser Befund hat viele überrascht. Wer sich die Mühe macht und die Korrelation zwischen der Note im Schwerpunkt und dem Staatsteil vergleicht, stellt fest, dass die vermeintlichen Bösewichte wie Münster mit seinen klausurbasierten Prüfungssystemen ohne mündliche Abschlussprüfung einen erheblich besseren Gleichlauf produzieren als Fakultäten mit nur einer Klausur und einem hohen Anteil mündlicher Prüfungsformen. Die Abweichung zwischen den beiden Prüfungsteilen liegt bei einer Vielzahl von Klausuren oft nur bei etwa anderthalb Notenpunkten und somit weit unter dem Bundesdurchschnitt. Ganz anders und wenig überraschend bei Fakultäten, die auf einen hohen Anteil mündlicher Prüfungsformate setzen.
Es ist bekannt, dass bei mündlichen Prüfungen die sprichwörtlichen Beißhemmungen höher sind als bei der Bewertung einer schriftlichen Klausur. Mündliche Prüfungen sind naturgemäß subjektiver, was dem einzelnen Studenten zwar zugutekommen kann, aber die Durchschnittsbetrachtung verzerrt. Auch die eine, alles entscheidende Klausur steigert nicht unbedingt die Korrelation, da Prüfer weniger geneigt sind, dem Prüfling mit einer schlechten Note den gesamten Schwerpunkt zu verderben. Auch das Argument, die Studenten vor einer Vielzahl von Klausuren schützen zu müssen, überzeugt nicht. Wer nur eine Schwerpunktklausur zu schreiben hat, muss bei gleichbleibendem Prüfungsstoff alles auf eine Karte setzen. Eine derartige Nadelöhrklausur kann dazu verleiten, den Abschluss des Schwerpunkts um ein weiteres Semester hinauszuzögern. Wer hingegen viele einzelne Klausuren schreibt, kann auch mal eine davon verhauen. Das Gesetz der großen Zahlen, das eine objektive Beurteilung begünstigt, findet sich schließlich auch im Staatsteil wieder, in dem je nach Bundesland sechs bis acht Klausuren geschrieben werden müssen.
All diese Argumente sind seit langem bekannt, doch in der Wissenschaftspolitik anscheinend weitgehend ungehört verhallt. In der Justizministerkonferenz beschloss man 2019, die Ungleichheit in der Schwerpunktausbildung zu beseitigen und die Anzahl der Prüfungen zu verringern. Manch einer wollte die Schwerpunktausbildung gar abschaffen. Diese Forderungen scheinen gerade aus den Bundesländern zu kommen, in denen die Fakultäten mit einer hohen Notenabweichung anzutreffen sind. Da diese Forderung aber politisch nicht durchsetzbar ist, musste man subtiler vorgehen. Es wurde gefordert, den bisher auf zwei Semester mit 16 bis 18 Wochenstunden angelegten Umfang der Schwerpunktausbildung zu reduzieren. Auch wurde vorgeschlagen, die Gewichtung der Schwerpunktausbildung von 30 Prozent auf 20 Prozent zu senken oder im Zeugnis über die erste juristische Prüfung künftig auf eine Gesamtnote aus Staatsprüfung und Schwerpunktprüfung zu verzichten.
Um dies zu verhindern, hat der Deutsche Juristen-Fakultätentag mit knapper Mehrheit und mehreren abweichenden Protokollnotizen führender Fakultäten vorgeschlagen, künftig nur noch genau eine häusliche Arbeit, eine mündliche Prüfung und eine Aufsichtsarbeit vorzusehen. Dieser Kotau hat zumindest einige Bundesländer wenig beeindruckt. Mitte Februar versuchte der Bundesrat in seiner 1000. Jubiläumssitzung in das Gesetz zur Modernisierung des notariellen Berufsrechts die Abschaffung der Gesamtnote hineinzuschreiben. Die Bundesregierung hat diesen Vorschlag zwar zurückgewiesen, fordert nun aber Maßnahmen „im System“ wie die Vereinheitlichung der Prüfungsanforderungen. Derzeit wird die Frage im Rechtsausschuss beraten.
Nordrhein-Westfalen war schon im September 2020 als erstes Bundesland mit einem Entwurf für eine Reform seines Juristenausbildungsgesetzes vorgeprescht. Man will die Vorschläge der Justizministerkonferenz zur Reform der Schwerpunktausbildung eins zu eins umsetzen. Genau eine Aufsichtsarbeit, eine Hausarbeit und eine mündliche Prüfung dürften die Fakultäten künftig abnehmen, der Umfang soll von 18 auf 14 Semesterwochenstunden gesenkt werden. Dem Vernehmen nach soll in dem in Vorbereitung befindlichen Regierungsentwurf den Fakultäten immerhin optional eine zweite Aufsichtsarbeit im Schwerpunkt zugestanden werden.
Zusammen mit der verdeckten Wiedereinführung der großen Scheine – künftig sollen Studenten in Nordrhein-Westfalen fünf Hausarbeiten zur Examensanmeldung vorweisen müssen – würde die Begrenzung auf genau eine Aufsichtsarbeit im Schwerpunkt zu einer Verlängerung des Studiums beitragen. Viele Studenten werden die Abschlussklausur im Schwerpunkt hinausschieben, um Zeit für die großen Hausarbeiten zu gewinnen. Neben diesem Kollateralschaden wird durch die verpflichtende mündliche Prüfung die Korrelation zwischen den Noten in Staatsteil und Schwerpunktausbildung eher ab- als zunehmen, womit das eigentliche Reformziel verfehlt werden dürfte. Wollte man wirklich Staats- und Schwerpunktbereichsnote angleichen, müsste man – wie im staatlichen Teil auch – auf eine Vielzahl von Klausuren setzen.
Fakultäten, die viele, gerade auch innovative Schwerpunkte im Wege eines modularen Baukastenprinzips anbieten und damit auch für Studienortwechsler attraktiv sind, leiden unter der Begrenzung der Prüfungsformen besonders: Eine Vorlesung, die in verschiedenen Schwerpunktbereichen angeboten wird, geriete in einer einheitlichen Abschlussklausur zwangsläufig unter die Räder. Wahlmöglichkeiten werden eingeschränkt. Externe Lehrbeauftragte, die wichtige Einblicke in die Praxis vermitteln, sind schwerer einzubinden. Einige Fakultäten bieten sowohl Schwerpunkte mit vielen Abschlussklausuren und nur einer Seminararbeit an als auch Schwerpunkte mit einer zweiten Seminararbeit unter Abschichtung einiger Abschlussklausuren oder sogar drei Seminararbeiten und nur eine Abschlussklausur. Derartige Binnendifferenzierungen, die den unterschiedlichen Interessen und Neigungen der Studenten Rechnung tragen, würden also ohne Not auf dem Altar einer durch diesen Regelungsvorschlag nicht zu erreichenden Vereinheitlichung geopfert.
Dass einsame Rufer in der Wüste in einem politisch weit fortgeschrittenen Prozess noch gehört werden und die Politik nunmehr wie Phönix aus der Asche doch noch eine Lanze für die Autonomie der Fakultäten und ihre Lehrfreiheit bricht, ist wenig wahrscheinlich. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich als Kompromissvorschlag im Blick auf die Prüfungsformen folgende Formulierung durchsetzen würde: eine häusliche Arbeit, eine Aufsichtsarbeit und eine mündliche Prüfung, die die Fakultäten durch eine zweite schriftliche Aufsichtsarbeit ersetzen dürfen. So hätten die Fakultäten zumindest die Möglichkeit, pro Semester eine Abschlussklausur zu stellen und auf den Weichspülgang einer obligatorischen mündlichen Prüfung zu verzichten.
Das Fazit lautet: Die Totengräber der juristischen Schwerpunktausbildung sind auf dem Vormarsch und schaufeln aufgrund eines nicht substantiierten Bauchgefühls einer der wesentlichen Errungenschaften der Reform von 2003 das Grab. Dies ist insbesondere aus der Sicht der Studenten zu bedauern, die diesen überflüssigen Reformeifer letztlich ausbaden müssen. Einem Schildbürgerstreich käme es gleich, wenn auf Bundesebene die Gesamtnote gestrichen würde, während gleichzeitig auf Landesebene die Gestaltungsfreiheit der Universitäten in der Schwerpunktausbildung beschränkt würde, um die Gesamtnote aussagekräftiger zu machen.
Der Autor ist Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Münster und koordiniert dort seit 2003 den Schwerpunkt Wirtschaft und Unternehmen.